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„Polens Stimme wird zu wenig gehört“

30 Jahre Nachbarschaftsvertrag: Warum die deutsch-polnischen Beziehungen immer etwas Besonderes sein werden, erklärt Professor Loew.

21.05.2021
Peter Oliver Loew gedenkt des deutschen Überfalls auf Polen 1939.
Peter Oliver Loew gedenkt des deutschen Überfalls auf Polen 1939. © Katarzyna Mazur

Vor bald 30 Jahren schlossen Polen und Deutsche einen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Über die Bedeutung des Abkommens, die Entwicklung der bilateralen Beziehungen und die gemeinsamen Perspektiven in der EU haben wir mit Peter Oliver Loew gesprochen, dem Direktor des deutschen Polen-Instituts in Darmstadt.

Welchen historischen Stellenwert hat der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag vom 17. Juni 1991?

Es war der erste Vertrag zwischen dem vereinten Deutschland und Polen, der die Beziehungen in aller Breite geordnet und auf ein rechtliches Fundament gestellt hat. Was etwas technisch klingt, war von herausragender Bedeutung für das bilaterale Verhältnis. Das gilt vor allem für die ersten zehn, 15  Jahre nach der Epochenwende von 1989.

Das ist genau die Zeitspanne bis zu Polens Nato-Beitritt 1999 und der EU-Osterweiterung 2004. War der Nachbarschaftsvertrag also nur ein Zwischenschritt?

Ja und nein. In der Präambel verspricht Deutschland, seinen Nachbarn Polen auf dem Weg in die europäische Staatengemeinschaft zu begleiten. Das war äußerst erfolgreich. Aber der Vertrag geht weit darüber hinaus und hat deshalb bis heute große Bedeutung. Das beginnt beim Jugendaustausch und den regelmäßigen Regierungskonsultationen und reicht bis zu Minderheitenrechten und Fragen der Kulturgüterrückgabe. Längst nicht alles ist abgearbeitet, aber mit dem Vertrag gibt es eine stabile Basis für gemeinsame Lösungen.

Wir sind einfach dazu berufen, Zukunftsthemen gemeinsam anzupacken.
Professor Peter Oliver Loew, Direktor des Polen Instituts

Stichwort Regierungskontakte: In den vergangenen Jahren hat es Missstimmungen gegeben. Gemeinsame Zukunftsentwürfe sucht man vergeblich. Wo stehen wir im bilateralen Verhältnis?

Es gab schon Zeiten einer intensiveren Zusammenarbeit, aber das sind politische Konjunkturen. Ich bin optimistisch. Als große Nachbarländer im Zentrum Europas sind wir einfach dazu berufen, Zukunftsthemen gemeinsam anzupacken. Das beginnt beim Klimaschutz und der Energieversorgung und endet bei der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auf diesen und vielen anderen Feldern sind wir aufeinander angewiesen. Dass sich der „Karren“ derzeit eher so dahinschleppt, hat auch mit unterschiedlichen Denkweisen zu tun. In Warschau hat Außenpolitik immer eine starke innenpolitische Komponente. Man möchte daraus im Wettstreit der Parteien Kapital schlagen. In Berlin ist das weniger der Fall. Die deutsche Außenpolitik versucht vorrangig, die bi- und multilateralen Beziehungen zu stärken. Selbstverständlich auch das nicht ohne Eigeninteresse.

Der frühere Außenminister Radosław Sikorski hat vor zehn Jahren einen Satz gesagt, der angesichts der deutsch-polnischen Geschichte aufhorchen ließ. Er habe inzwischen größere Angst vor deutschem Nichtstun als vor deutschem Tatendrang. Muss man den Satz heute umdrehen: Braucht Europa mehr polnischen Tatendrang?

Auf jeden Fall. Pragmatische, produktive polnische Politik wäre ein großes Plus für Europa. Polens Stimme wird in der EU zu wenig gehört, aber das liegt auch daran, dass sie sich zu selten konstruktiv einmischt. Eher ist das Gegenteil öfter der Fall. Die nationalkonservative Regierung in Warschau hat zum Beispiel die Kooperation der östlichen EU-Staaten in der Drei-Meeres-Initiative und der Visegrád-Gruppe vorangetrieben. Dahinter steht auch das Ziel, die europäische Integration zu verlangsamen.

Heute haben sich die Gewichte zugunsten Polens verschoben
Professor Peter Oliver Loew, Direktor des Polen Instituts

Warum ist es nicht gelungen, einen deutsch-polnisch-französischen EU-Motor auf Touren zu bringen? Die Idee dazu gab es mit dem Weimarer Dreieck ja bereits 1991.

Das hat mit unterschiedlichen Interessenlagen zu tun, aber auch mit einer Asymmetrie beim politischen Gewicht. Polen war anfangs Juniorpartner. Das Land steckte ja tief in der Transformation. Und heute, da sich die Gewichte zugunsten Polens verschoben haben, hat sich die Regierung in Warschau andere Ziele gesetzt. Statt mit den beiden wichtigsten EU-Staaten gemeinsam die Gestaltung des Ganzen zu bestimmen, setzt man lieber auf regionale Kooperationen im Osten und betreibt in Brüssel eine Art Klientelpolitik.

Das Weimarer Dreieck initiierten damals die Außenminister Krzysztof Skubiszewski, Hans-Dietrich Genscher und Roland Dumas. Was für große Namen! Fehlt es heute auch an Politikern, die für die Sache brennen?

Ja, es fehlt an Herzblut und an Persönlichkeiten, die in der Lage wären, deutsch-polnische Nachbarschaft oder die Dreiecksbeziehung mit Frankreich vorzuleben und mit Emotionen zu füllen. In unserer Mediendemokratie wäre es auch wichtig, öffentlich gemeinsame Zeichen dafür zu setzen, dass ein Miteinander im Denken und Handeln allen nutzt und einen großen Mehrwert hat. Aber dafür braucht es eben Menschen, die aus innerem Antrieb heraus dafür kämpfen, dass unsere guten Beziehungen noch besser werden. Luft nach oben ist vorhanden.

Polen ist ein starkes und wichtiges EU-Land.
Professor Peter Oliver Loew, Direktor des Polen Instituts

In Polen und anderen Staaten des östlichen Europas gibt es ein verbreitetes Empfinden, wie Europäer zweiter Klasse behandelt zu werden. Zu Recht?

Es stimmt, dass der Osten vielen in der EU noch immer oft als rückständiges, aufholendes Gebiet gilt. Andererseits hat gerade Polen wirtschaftlich so enorme Fortschritte gemacht, dass mehr Selbstbewusstsein nicht nur möglich, sondern auch vollkommen angemessen wäre. Mitunter scheinen die Klagen deshalb eher Teil eines politischen Spiels zu sein, um Verantwortung für Fehlentwicklungen nach Brüssel abzugeben. Polen ist ein starkes und wichtiges EU-Land, das in Europa auf Augenhöhe agieren und konstruktive Angebote machen sollte, statt sich selbst schmollend in die zweite Klasse zurückzuziehen.

Abschließend ein Blick voraus: Wohin geht die deutsch-polnische Reise in den Zwanzigerjahren?

Unsere Beziehungen werden aufgrund der historischen Erfahrungen noch lange etwas Besonderes bleiben. Wenn man sich andererseits die enorme Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung in Polen ansieht, dann wird das Land eher früher als später zu Deutschland aufschließen. Das wird auch die politische und kulturelle Bedeutung Polens weiter steigern und mit Sicherheit dazu führen, dass immer mehr Menschen in Deutschland diese Bedeutung wahrnehmen und anerkennen.

Professor Dr. Peter Oliver Loew, mehrfach ausgezeichneter Historiker, Slawist und Übersetzer, leitet das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt seit 2019. Das Institut wurde 1980 gegründet mit dem Auftrag, die gegenseitigen Kenntnisse von Geistesleben und Kultur unter Deutschen und Polen zu vertiefen.

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