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„Die Menschen wollen mehr Mitbestimmung“

Die Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel forscht zu demokratischen Innovationen: von Bürgerräten bis zu Referenden. 

Carsten HauptmeierCarsten Hauptmeier, 10.05.2023
„Die Menschen wollen mehr Mitbestimmung“
© IStock

Deutschland blickt in diesem Jahr zurück auf die Anfänge der deutschen Demokratie bei der Paulskirchenversammlung vor 175 Jahren in Frankfurt am Main. Die Jubiläumsfeiern stehen jedoch auch im Zeichen der Debatte darüber, ob und wie die Demokratie weiterentwickelt werden könnte. Die Frankfurter Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel forscht seit Jahren zu „Demokratischen Innovationen“. Sie spricht über neue Formen der Mitbestimmung in Bürgerräten oder bei Referenden. 

Demokratieforscherin Brigitte Geißel
Demokratieforscherin Brigitte Geißel © Vincent Leifer

Frau Professorin Geißel, Sie forschen zu „Demokratischen Innovationen“. Braucht die Demokratie eine Erneuerung?
Die Gesellschaften in Demokratien haben sich verändert, aber unsere demokratischen Strukturen nicht. Parteien vertreten aber zum Beispiel nicht mehr wie in der Vergangenheit bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Es zeichnet sich ab, dass eine rein repräsentative Demokratie über Wahlen von Parteien alle vier oder fünf Jahre in den heutigen Gesellschaften allein nicht mehr funktioniert. Die Menschen wollen mehr Mitbestimmung.  

Wie könnten neue Formen der Mitbestimmung aussehen?
Ich denke, wir brauchen verschiedene Bausteine, die auch miteinander verbunden werden können. Eine Möglichkeit sind zufällig zusammengesetzte Bürgerräte, die zu bestimmten Themen Empfehlungen erarbeiten. Das bekannteste Beispiel ist wahrscheinlich Irland, wo nach einer Empfehlung des Bürgerrats in einer Volksabstimmung das Abtreibungsrecht liberalisiert wurde. Das Besondere war, dass die Arbeit des Rats direkt an ein Referendum gekoppelt war.  

Wie verbindlich sollten grundsätzlich die Empfehlungen von Bürgerräten sein?
Bürgerräte sollten keine Entscheidungen treffen. Sie können aber ein wichtiger Baustein in einer gesellschaftlichen Debatte sein. Wichtig ist allerdings, dass die Politik auf die Empfehlungen antwortet. Ein „Danke und Tschüss“ als Reaktion frustriert nur. Es muss sich aber auch nicht zwingend ein Referendum anschließen.  

Referenden werden oft kritisch betrachtet, weil zu emotionale Entscheidungen befürchtet werden. Ist diese Sorge berechtigt?
Vor einem Referendum muss es auf jeden Fall eine längere Debatte in der Gesellschaft geben, in der alle Aspekte einer Frage berücksichtigt werden. Wir brauchen dafür auch eine entsprechende Debattenkultur, ein gemeinsames Ringen um Lösungen.  

Eine weitere Möglichkeit sind sogenannte Multi-Issue-Referenden. Da werden zum Beispiel zu 20 verschiedenen Themen jeweils unterschiedliche Optionen zur Wahl gestellt. Die Wählerinnen und Wähler können dann 20 Stimmen verteilen, jeder einzelnen Option können sie dabei bis zu drei Stimmen geben. Mit diesem System können Bürgerinnen und Bürger ihre Wünsche klarer ausdrücken, als wenn sie sich für eine Partei entscheiden müssen. In einem Test in Filderstadt in Baden-Württemberg hat sich auch gezeigt, dass ein solches Referendum nicht zu kompliziert ist. 

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