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„Neue deutsche Identität“

Lorraine Daston, Direktorin emerita des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, über ein Land im Wandel.

02.10.2020
Weltweit führende Wissenschaftshistorikerin: Lorraine Daston
Weltweit führende Wissenschaftshistorikerin: Lorraine Daston © Skuli Sigurdsson/Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

„Deutschland hat sich in den vergangenen 30 Jahren seit seiner Wiedervereinigung enorm verändert. 1990 kam ich aus den USA an die traditionsreiche Universität Göttingen, die nach ihrer ruhmvollen Vergangenheit vor 1933 leider recht provinziell geworden war. Aber diese Universität und die deutsche Wissenschafts- und Forschungslandschaft haben sich in den vergangenen 15 Jahren sehr erfolgreich internationalisiert und ziehen mehr und mehr der weltweit besten Studierenden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an. Seit bald einem Jahrzehnt beschäftigt sich das deutsche Wissenschaftssystem zudem ernsthaft mit der Frage der Geschlechtergerechtigkeit, nachdem das Problem sehr lange Zeit vernachlässigt wurde.

Die Wiedervereinigung hat West- und Ostdeutsche mit ihren unterschiedlichen Werten und Zielen konfrontiert; es gibt eine anhaltende Diskussion, was es bedeutet, deutsch zu sein. Und das nicht nur zwischen West- und Ostdeutschen: Heute hat ein Fünftel der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Dazu kommt, dass junge Deutsche mit den unterschiedlichsten Hintergründen in der gesamten Europäischen Union studieren und arbeiten. All das trägt dazu bei, deutsche Identität neu zu prägen.

In Berlin verschwindet allmählich die Generation der Menschen, die die Karte der geteilten Stadt verinnerlicht hatten, und damit verschwinden auch die Erinnerungen an die Vergangenheit der Stadt. Aber ich schätze sehr das Berliner Bewusstsein für die grundlegende Bedeutung von Geschichte – und ich hoffe, dass dieses Bewusstsein erhalten bleibt.“

Die Wissenschaftshistorikerin Professor Lorraine Daston gehört zu den weltweit renommiertesten Vertreterinnen ihres Fachs. Sie war von 1995 bis zu ihrer Emeritierung 2019 Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, nachdem sie zuvor unter anderem an den Universitäten in Harvard, Princeton, Göttingen und Chicago gelehrt hatte.

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