Europa erleben
Europa quasi zum Nulltarif kennenlernen, unvergessliche Erfahrungen sammeln und den europäischen Gedanken leben – das ermöglicht der Europäische Freiwilligendienst.

Sardinien, damit verbinden viele zunächst einmal Urlaub. Sonne tanken, baden, wandern, vielleicht ein wenig feiern. Für Radost bedeutet Sardinien in erster Linie Arbeit – in einer sardischen Gemeindeverwaltung. Aus der Millionenstadt Berlin hatte der Europäische Freiwilligendienst (EFD) die 19 Jahre alte Abiturientin in ein Bergdorf mit 700 Einwohnern geführt. Zunächst vielleicht ein kleiner Kulturschock – doch ohne langanhaltende Wirkung.
Der EFD ermöglicht jungen Europäern, für einen bestimmten Zeitraum Teil eines gemeinnützigen Projekts zu werden. Im Prinzip kann jede öffentliche Einrichtung die Rolle der Entsendeorganisation oder des Aufnahmeprojekts übernehmen. Die einzige Voraussetzung für die Teilnehmer ist das Alter: Zwischen 17 bis 30 Jahre alt müssen sie sein. Der Schulabschluss spielt keine Rolle. Es werden zu Beginn auch keine Sprachkenntnisse erwartet, ein Sprachkurs in der jeweiligen Landessprache wird finanziert.
Das war für Radost, die in der Schule Italienisch gelernt hat, nicht ganz so wichtig wie die Kostenübernahme für Unterkunft und Verpflegung, Taschengeld und Versicherungen. Denn nur so können sich viele junge Menschen den Auslandseinsatz als ehrenamtliche Helfer überhaupt leisten.
Gutes tun – und Europa erleben
Deutschlandweit gibt es mehr als 400 anerkannte Entsendeorganisationen in alle EU-Mitgliedsstaaten, aber auch in Länder, die nicht zur Gemeinschaft gehören, wie zum Beispiel Aserbeidschan, Tunesien, Montenegro. Die EU-Kommission hat eine europaweite Datenbank für anerkannte Aufnahmeprojekte zum EFD eingerichtet, die regelmäßig aktualisiert wird. So kam es, dass Radost und ein weiterer Freiwilliger aus der Ukraine die kleine sardische Gemeinde bei der Organisation von kulturellen Veranstaltungen unterstützen konnten. Radost betreute außerdem Grundschulkinder und Senioren, gab Deutsch-, Englisch- und Musikunterricht.
Ein Ziel des EFD ist es, eine bejahende Haltung zu einer gemeinsamen europäischen Identität zu fördern. Dass diese längst nicht selbstverständlich ist, erfuhr Radost in den Gesprächen mit Einheimischen. „Viele Italiener haben einen kritischen Blick auf Europa. Auf Sardinien ist die Skepsis noch größer als im restlichen Land“, berichtet sie. Diese Haltung sei ihr neu. Sie selbst, ihre Freunde zu Hause und die Familie glaubten an den europäischen Gedanken und seien vom Nutzen der EU überzeugt. Deshalb will Radost auch für ihre Sicht auf Europa werben. Ihr selbst sei Europa dank der zehn Monate in Italien noch vertrauter geworden. „Die Europäische Union war zuvor etwas Abstraktes. Die persönlichen Beziehungen machen alles viel klarer und konkreter“, resümiert Radost.
Auch nach Deutschland kommen junge Freiwillige aus Europa. So wie Giulia, die im italienischen Trient studiert hat. Deutschland lernte sie zunächst über das Austauschprogramm Erasmus+ kennen: Sie studierte für ein Semester in der norddeutschen Stadt Bremen. Der Anschlag auf den Pariser Club Bataclan im November 2015 sei ihr Schlüsselerlebnis in der Diskussion um den europäischen Gedanken, sagt Gulia: „Damals besuchte ich mit anderen Erasmus-Studenten Berlin. Ich war zum ersten Mal dort und genoss jede Minute. Als wir von den Geschehnissen in Paris erfuhren, kippte die Stimmung. Panik schien sich über ganz Europa zu verbreiten“, erinnert sich Giulia.
Wenn Reisen Identität stiftet
Doch die junge Frau glaubt an ein offenes Europa und kehrt im Sommer 2016 zurück nach Deutschland. Diesmal als Teilnehmerin des EFD. „Die Erasmus-Generation kämpft auf ihre Art für Europa. Wir überwinden Grenzen – zum Beispiel, indem wir reisen. Dann heißen wir neue Menschen in unserem Leben willkommen. Das schafft Vertrauen und stärkt die europäische Identität.“ Giulia wird ein Jahr lang mit deutschen Grundschulkindern in Westerkappeln nahe der niedersächsischen Stadt Osnabrück arbeiten. An den Wochenenden möchte sie zusammen mit anderen europäischen Freiwilligen durch Deutschland reisen. In ihrem Blog auf youthreporter.de lässt sie gerne Musik sprechen. So beantwortet sie die Frage nach der Zukunft Europas mit einem Zitat aus dem Song „Hey You“ von Pink Floyd: „Together we stand, divided we fall.“