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„Niemand sperrt mich mehr ein“

Ein Dossier zum 25. Jahrestag des Mauerfalls. In Teil 8 spricht Sophie Hellriegel darüber, wie sie heute über die Wiedervereinigung denkt.

22.05.2014
Matthias Juegler - Sophie Hellriege
Matthias Juegler - Sophie Hellriege © Matthias Juegler - Sophie Hellriege

„Ich erinnere mich an einen einzigen Moment, an ein ganz bestimmtes Gefühl: Ich saß auf den Schultern meines Vaters. Wir waren in der Innenstadt, 1989, unweit einer Montagsdemo. Mein Vater wollte Schuhe kaufen. Ein Mann kam zu ihm und fragte: Was machen Sie hier? In meiner Erinnerung gab es einen Streit und der Mann schlug meinen Vater mit einem Knüppel in die Magengrube. Ich, immer noch auf seinen Schultern, empfand enorme Angst. Erst neulich habe ich mit ihm darüber gesprochen. Er sagte, der Mann sei ein Polizist gewesen und er, mein Vater, hätte sich über ihn lustig gemacht, weil er wusste: Ich kaufe bloß Schuhe, ich habe nichts verbrochen. Das hätte dem Polizisten gereicht, um auf ihn einzuschlagen, vor meinen Augen.

 

Jetzt, 25 Jahre danach, denke ich gar nicht darüber nach, ob ich ein Ossi oder ein Wessi bin. In meiner Familie ist das aber anders. Vor allem mein Vater, er ist 78 Jahre alt, lebt noch in der Vergangenheit. Das Schlimmste für ihn war und ist bis heute, dass er den Großteil seines Lebens nicht verreisen durfte – nicht einmal nach Russland durfte er, bloß weil er Verwandte im Westen hatte. Das war eine existenzielle Einschränkung für ihn, die ihn sehr getroffen hat. Ich weiß, ich kann überallhin reisen, niemand sperrt mich mehr ein. Aber ich weiß nicht, ob ich das wirklich bewusst wahrnehme – ich kenne es ja nicht anders. Ich weiß: Es gab ein System, das Menschen teilweise sehr subtil unterdrückt hat, und ganze Leben zerstört hat, aber dieses System gibt es nicht mehr. Es gibt neue Probleme, ja. Aber dennoch: Vielleicht ist das das eigentliche Glück, in dem ich lebe, dass dieses System Geschichte ist.“

 

 

Sophie Hellriegel wurde 1987 in Leipzig geboren. Sie hat gerade ihr Studium der germanistischen Literaturwissenschaft, Ethnologie und Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale) beendet. Sie lebt mit ihrem Mann und Sohn in Leipzig.

 

Protokoll: Matthias Jügler

 

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