Zum Hauptinhalt springen

Verantwortung vor der Geschichte

Alfred Grosser über den „deutsch-franzöischen Motor“ und Wege aus der Eurokrise.

Alfred Grosser , 13.08.2012
© picture-alliance/ZB

Als Charles de Gaulle im September 1962 seine Deutschlandreise triumphal beendete, schrieb Bundeskanzler Adenauer an den früheren französischen Außenminister Robert Schuman, er habe in diesen Tagen oft und voller Dankbarkeit an ihn gedacht. Und meinte damit die Erinnerung an den 9. Mai 1950, jenen Tag, an dem Schumans Erklärung zur Neukonstruktion Europas den Grundstein für den „deutsch-französischen Motor“ und für Europa legte. Adenauer hatte die Botschaft damals sofort verstanden, ebenso wie zwei andere spätere Gründerväter der EU, der Italiener Alcide de Gasperi und der belgische Sozialist Paul-Henri Spaak. Deutschland und Frankreich – die 2013 den 
50. Jahrestag des Vertrags zur deutsch-französischen Zusammenarbeit feiern werden – als Motor eines geeinten Europas ja, nicht aber als alleinige Lenker.

Kreative Kompromisse

Dabei spielte die parteipolitische Orientierung der jeweiligen Protagonisten, die später die Geschicke bestimmten sollten, niemals eine entscheidende Rolle. Weder das Duo Helmut Schmidt/Valéry Giscard d’Estaing noch das Tandem Gerhard Schröder/Jacques Chirac nutzten das Parteibuch in den deutsch-französischen Beziehungen zur Kursbestimmung. An der Spitze der Mutigen standen ohne Zweifel der Konservative Helmut Kohl und der Sozialist François Mitterrand, unterstützt vom damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors. In der heutigen Krise sollte daran erinnert werden, dass kurz vor der Schaffung des Euro fast niemand an die Einführung der gemeinsamen Währung geglaubt hatte. Es ist also zu hoffen, dass die Zukunft besser wird, als die Vernunft es souffliert. Das setzt wieder einmal eine die anderen EU-Partner mitziehende deutsch-französische Gemeinsamkeit voraus. Dass Frankreichs neuer Präsident François Hollande Sozialist ist, sollte dabei kein Hindernis sein. Als Mann der Partei steht er der deutschen Sozialdemokratie nahe, als Staatspräsident ist die christdemokratische Kanzlerin Angela Merkel seine „einzige“ echte Partnerin. Das größte Hindernis für das Duo Merkel/Hollande liegt wahrscheinlich in seinen unterschiedlichen Grundauffassungen. Damit Deutschland weiterhin finanzielle Garantien geben kann, bedarf es einer tatsächlichen Kontrolle der Haushaltspolitik der Empfangsländer, mehr gemeinsamer Autoritäten, einer Abtretung der Souveränitätsrechte, mehr europäischen Föderalismus. Auf französischer Seite hingegen überwiegt der Glaube an die Kraft übereinstimmender Regierungsentscheidungen. Wege zum kreativen Kompromiss sind in Sicht, allerdings mit einer nicht gänzlich unbedeutenden Einschränkung: Auch Berlin vernachlässigt die europäischen Institutionen und argumentiert so, als gelte es, immer neue zu erfinden.

Euro am Scheideweg

Die französischen Parlamentswahlen haben François Hollande und der Sozialistischen Partei eine historische Mehrheit und somit einen weiten politischen und zeitlichen Gestaltungshorizont eröffnet. Auch die Kanzlerin regiert nicht nur mit Blick auf die Bundestagswahl im September 2013. Beide, Hollande wie Merkel, könnten von einem gemeinsamen nach vorne gerichteten Handeln profitieren, vorausgesetzt, sie überzeugen damit andere und benutzen dabei die europäischen Institutionen. Es sollte eine Art Kerneuropa entstehen, das jedem offensteht, sobald er mitmachen möchte. Man kann in einer Gemeinschaft von 27, bald 28, nicht auf jedes Mitglied warten und es gibt Möglichkeiten, ohne dieses zu handeln.

Der Euro steht an einem Scheideweg. Vielleicht gerade deshalb werden sich in dieser Situation Augen öffnen und sehen, was auf dem Spiel steht. Viele Deutsche und Franzosen schwelgen zur Zeit in einer klagenden, anklagenden Euro-Skepsis. Angela Merkel und François Hollande sollten deshalb in ihren Worten klar wiederholen, was Jacques Chirac, junger Premierminister, im Juli 1974 verkündet hatte: „Die Europapolitik gehört nicht mehr zu unserer Außenpolitik. Sie ist etwas anderes und lässt sich nicht von den Zielen trennen, die wir für uns selbst gesteckt haben.“

Alfred Grosser wurde 1925 in Frankfurt am Main geboren, ist seit 1937 französischer Staatsbürger. Der Publizist ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Institut d’Études Politiques in Paris, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels und Träger vieler nderer Auszeichnungen und Preise. Alfred Grosser versteht sich als „Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kulturen“.