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Was Sie über die Energiewende wissen sollten

10 Antworten von Dr. Patrick Graichen, Direktor des renommierten Think-Tanks Agora in Berlin zum Thema Energiewende.

20.03.2014
© Dominique Bruneton/Photo Alto

1. Deutschland setzt auf die „Energiewende“. Was ist darunter konkret zu verstehen?

„Als Energiewende bezeichnen wir den Umbau der deutschen Energieversorgung weg von Öl, Kohle, Gas und Atomkraft hin zu Erneuerbaren Energien. Bis spätestens 2050 sollen mindestens 80 Prozent der Stromversorgung und 60 Prozent der gesamten Energieversorgung aus Erneuerbaren Energien stammen. Als nächster Schritt werden bis zum Jahr 2022 alle Atomkraftwerke abgeschaltet, zudem soll bis 2025 die Stromversorgung zu 40 bis 45 Prozent aus Erneuerbaren Energien stammen (heute: 25 Prozent). Beide Ziele genießen eine große Unterstützung in Politik und Gesellschaft.“

2. Welche Technologien stehen im Mittelpunkt der Energiewende?

„Die günstigsten Erneuerbaren Energien, die uns zur Verfügung stehen, sind Windkraft und Solarstrom. Durch den industriellen Ausbau und die technische Entwicklung der vergangenen 20 Jahre sind die realen Erzeugungskosten von Wind und Sonne in Deutschland inzwischen bei rund 6 bis 9 Eurocent pro Kilowattstunde angekommen. Das entspricht auch den Stromerzeugungskosten neuer Kohle- und Gaskraftwerke und ist deutlich günstiger als Strom aus neuen Atomkraftwerken. Im Mittelpunkt der Energiewende stehen also Wind und Solar!“

3. Kann sich eine Industrienation wie Deutschland ausschließlich auf Sonne und Wind als Energieträger verlassen? Oder ist mit Stromausfällen zu rechnen?

„Deutschland hat die geringste Stromausfallrate in Europa, und das soll so bleiben. Deswegen gehören zur Wind- und Sonnenenergie zwingend auch Backup-Technologien, die Strom in den Zeiten liefern, an denen es weder ausreichend Wind noch Sonne gibt. Das sind für die nächsten Jahrzehnte zunächst einmal Kohle- und Gaskraftwerke. Sie werden flexibel dann Strom erzeugen, wenn die Stromnachfrage größer ist als die Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien. Perspektivisch werden aber auch die anderen Erneuerbaren Energien (Wasserkraft, Biomasseanlagen, Geothermie) sowie Stromspeicher diese Aufgabe übernehmen.“

4. Wind- und Sonnenenergie werden häufig nicht da verbraucht, wo sie produziert werden. Welche technologischen Lösungen bieten sich an?

„Die bestehenden Stromnetze sind robust und können bei effizienter Bewirtschaftung noch viel mehr Erneuerbare Energien transportieren. In Teilen Deutschlands haben wir bereits jetzt etwa 40 Prozent Wind- und Sonnenenergie, ohne dass die Netze deswegen groß verstärkt wurden. Insofern ist der Netzausbau zunächst einmal kein Engpass für den weiteren Ausbau der Erneuerbaren Energien. Mittelfristig werden wir aber auch neue Hochleistungsnetze brauchen, die den Windstrom von der Nordseeküste in die wind-ärmeren Standorte bringen. Eine zweite Option ist es, Wind- und Sonnenanlagen verstärkt dort zu errichten, wo der meiste Strom verbraucht wird – hier gibt es noch viele unerschlossene Potenziale.“

5. Wie kann Deutschland den Vorbehalten begegnen, die manche Nachbarländer gegenüber der Energiewende zeigen?

„Die Energiewende ist die Antwort auf zwei Herausforderungen: Zum einen werden fossile Ressourcen wie Kohle, Öl und Gas immer knapper, zum anderen bedroht der Klimawandel unsere Gesellschaften. Erneuerbare Energien sind die technologische Lösung beider Probleme – und zudem noch sehr kostengünstige, heimische Energieträger. Der Umbau in eine kohlenstoffarme Wirtschaft, den wir in Europa gemeinsam beschlossen haben, führt unweigerlich hin zu deutlich mehr Erneuerbaren Energien, da sie viel günstiger sind als neue Atomkraftwerke oder Kohlekraftwerke mit CO2-Abscheidung. Entscheidend ist jetzt, dass Deutschland mit seinen Nachbarn einen Dialog darüber führt, wie die Integration von Wind- und Solaranlagen in das Stromsystem am besten gelingt.“

6. Welche Anreize muss die Politik schaffen, um die Energiewende umzusetzen und den Strommarkt sinnvoll zu regulieren?

„Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) hat im Jahr 2000 einen Wettbewerb der Technologien ausgelöst. Gewinner dieses Wettbewerbs sind die Windkraft und der Solarstrom. In der jetzt startenden zweiten Phase geht es darum, auf Basis der Erneuerbaren Energien ein sicheres und kosteneffizientes Energiesystem zu erstellen. Das bedeutet, dass die Förderung nun auf Wind- und Solaranlagen fokussiert werden muss. Gleichzeitig müssen die gesetzlichen Grundlagen des Strommarkts so umgestaltet werden, dass Kohle- und Gaskraftwerke, Stromnachfrage und Stromspeicher flexibel auf die Stromerzeugung von Wind und Sonne reagieren und so gemeinsam die Versorgungssicherheit gewährleisten.“

7. Deutschland zählt in der Umwelttechnologie zu den führenden Nationen – entwickelt sich die Energiewende zu einem Innovationstreiber?

„Die Energiewende ist ein Zukunftsprojekt für die deutsche Industrie. Denn Erneuerbare Energien werden ein weltweiter Massenmarkt werden. Wenn Wind- und Solarenergie bereits in Deutschland in etwa so günstig sind wie neue Kohle- und Gaskraftwerke, dann gilt dies erst recht für die vielen Regionen der Welt, in denen mehr Sonne und Wind zur Verfügung stehen. Insofern bringt die Energiewende eine Vielzahl an Innova­tionen hervor, die in den kommenden Jahren weltweit gefragt sein werden – nicht nur im Energiebereich, sondern auch im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik sowie der Werkstoff- und Materialtechnologie.“

8. Die Energiewende ist ein Milliarden-Projekt. Wie kann sie zu vertretbaren Preisen für die Verbraucher finanziert werden? Und: In welchem Verhältnis stehen Kosten und Nutzen?

„Deutschland gibt jährlich über 80 Milliarden Euro für den Import von Kohle, Öl und Gas aus. Diese Summe wird in den nächs­ten Jahren nach und nach ersetzt durch heimische Wertschöpfung im Bereich der Erneuerbaren Energien – mit entsprechend positiven Wachstums- und Beschäftigungseffekten. Die Bilanz aus Kosten und Nutzen ist insofern eindeutig positiv. Kurzfristig führt die Energiewende zwar zu zusätzlichen Investitionen und damit auch zu höheren Kosten für die Verbraucher. Da die Stromkosten aber insgesamt nur drei Prozent der Ausgaben der privaten Haushalte ausmachen, ist dies insgesamt gut tragbar.“

9. Eine Reduzierung des Stromverbrauchs ist am nachhaltigsten. Welche Bedeutung hat die Energieeffizienz bei der Energiewende?

„Die Energieeffizienz ist die zweite Säule der Energiewende neben dem Ausbau der Erneuerbaren Energien. Jede Kilowattstunde Strom, die nicht verbraucht wird, spart fossile Ressourcen sowie den Bau von Kraftwerken und Netzen. Deswegen ist es wichtig, dass hier mehr passiert. Der Stromverbrauch in Deutschland ist seit 2007 leicht rückläufig. Bis zum ursprünglich im Energiekonzept formulierten Ziel, einer Senkung des Stromverbrauchs um 10 Prozent bis 2020, ist es aber noch ein weiter Weg. Hier muss die Politik noch weitere Maßnahmen beschließen.“

10. Welche Rolle spielt der Atomausstieg bei der Energiewende?

„Oft wird die Energiewende als Reaktion Deutschlands auf die Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 dargestellt. Sie hat jedoch schon viel früher begonnen: Die Förderung der Erneuerbaren Energien begann in Deutschland bereits im Jahr 1990. Im Jahr 2000 wurde dies dann mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz fest verankert. Im gleichen Jahr vereinbarte die damalige Regierung mit den deutschen Energieunternehmen den Atomausstieg bis zum Jahr 2022. Die Energiewende-Beschlüsse der Regierung Merkel im Jahr 2011 stehen somit in einer langen Tradition des Umbaus der Energieversorgung – weg von Kohle, Öl, Gas und Atom hin zu den nachhaltigen Energiequellen Wind, Sonne, Wasserkraft, Biomasse und Erdwärme.“