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Viel mehr als nur ein Binnenmarkt

EU-Ratspräsidentschaft: Die Menschen im europabegeisterten Polen knüpfen sehr unterschiedliche Erwartungen an deutschen Vorsitz. 

Ulrich Krökel, 23.07.2020
Das illuminierte Gebäude des Gdansker Stadtrats am Europatag.
Das illuminierte Gebäude des Gdansker Stadtrats am Europatag. © dpa

„Das Allerwichtigste“ ist der Klimaschutz für Ewelina Trojanowska. Schon um der Zukunft ihres vierjährigen Sohnes willen. Wenn sie einen Wunsch an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft frei hätte, müsste die junge Mutter deshalb nicht lange überlegen: „Tut alles, um den Klimawandel zu stoppen oder wenigstens zu bremsen. Sonst endet das in einer Katastrophe.“ Die 26-Jährige aus der westpolnischen Handelsmetropole Posen kann sich noch allzu gut an die Dürreperioden der vergangenen Hitzesommer erinnern, die den Osten des Kontinents noch wesentlich härter getroffen haben als den Westen. „Das hat mir richtig Angst gemacht“, bekennt sie. Damit steht sie nicht allein. Bei einer repräsentativen, EU-weiten Umfrage 2019 erklärten 70 Prozent der befragten Polen, sie hielten den Klimawandel für ein „sehr ernstes“ Problem.

Ein Nebenfluss der Wisla (Weichsel) bei Sadlowice trocknet aus. Polens größter Strom führte schon im Mai wegen der Trockenheit  nur noch wenig Wasser.
Polens größter Strom führte schon im Mai wegen der Trockenheit nur noch wenig Wasser. © dpa

Der Juli 2020, in dem Deutschland den Ratsvorsitz in der EU für ein halbes Jahr übernommen hat, hat in Polen zwar eher kühl begonnen. Aber die Furcht vor einer apokalyptischen Zukunft hat sich in Zeiten der Corona-Pandemie eher noch verstärkt. Umso mehr hofft Trojanowska auf die EU und die Führungsrolle des Nachbarlandes. „Die Deutschen sollten ruhig stärker für ihren Weg werben und dann vorangehen, besonders in der Umwelt- und Energiepolitik“, sagt sie. Die Sichtweise kommt nicht von ungefähr. Trojanowska verbindet viel mit Deutschland: Sie hat gerade ihr Masterstudium in Germanistik beendet und arbeitet als Teamleiterin im Marketing eines Schweizer Unternehmens. Als Kind hat sie mehrere Jahre in der Nähe von Bremen gelebt, wo sie sich „immer total wohl gefühlt hat“. All das prägt natürlich.

91 Prozent befürworten Polens Mitgliedschaft in der EU

Trojanowska ist sich aber sicher, mit ihrer Begeisterung für Europa kein Einzelfall zu sein. „Die meisten Menschen in Polen sind mit der EU sehr glücklich“, sagt sie. Umfragen bestätigen das. 15 Jahre nach dem Beitritt erreichte die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft in Polen zuletzt mit 91 Prozent einen neuen Rekordwert. Besonders populär ist die Reisefreiheit. Außerdem nennen die meisten Befragten wirtschaftliche und finanzielle Gründe für ihre Zufriedenheit. „Wenn man durch das Land fährt, sieht man überall Schilder, die darauf hinweisen, was alles mit Geld aus Brüssel gebaut worden ist“, berichtet auch Trojanowska. Ist die EU also am Ende doch nur ein gigantischer Binnenmarkt und Strukturförderapparat?

Ewelina Trojanowska.
Ewelina Trojanowska. © privat

„Auf keinen Fall“, widerspricht Trojanowska und verweist als ein Beispiel auf die polnische Innenpolitik. Es gehe für viele auch um demokratische Grundwerte. Sie selbst wünscht sich mehr Unterstützung von der Brüsseler Kommission und der deutschen Ratspräsidentschaft, wenn es um den Erhalt von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung in ihrem Heimatland geht. Auch in diesem Punkt sollten sich die EU und Deutschland „ruhig stärker einmischen“, findet die 26-Jährige. Dabei meint sie den anhaltenden Streit um die polnische Justiz- und Medienpolitik.

Charles Michel (links), Präsident des Europäischen Rates, mit dem polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki (rechts) beim EU—Sondergipfel.
Premierminister Mateusz Morawiecki (rechts) beim EU—Sondergipfel. © dpa/AP-Pool

Großes Verständnis gibt es in Warschauer Regierungskreisen, dass es für die Berliner Diplomatie während der Ratspräsidentschaft „wirklich enorme Probleme zu lösen gibt“. So formulierte es der Politikwissenschaftler Krzysztof Miszczak, der auch Ministerpräsident Mateusz Morawiecki berät. Wie hart in der EU gerungen wird, zeigte sich auch beim Corona-Sondergipfel zu den zentralen Finanzfragen der Union Mitte Juli. Doch Miszczak erinnerte auch daran, dass es neben dem Ringen ums Geld auch noch die Corona-Pandemie gibt sowie den Brexit und weitere wegweisende Fragen der Weltpolitik, etwa im Verhältnis zu China.

Lockdown machte den Wert der Freiheit wieder bewusst

Vor einer zweiten Corona-Welle fürchtet sich auch Ewelina Trojanowska, obwohl sie den Klimawandel für das bedrohlichere Problem hält. Der Pandemie kann die 26-Jährige aber bei allem Leid sogar etwas Positives abgewinnen. „Vielleicht waren der Lockdown und die Grenzschließungen in Europa ja auch ganz heilsam“, sagt sie. „Immerhin haben wir gemerkt, dass unsere Freiheiten nicht selbstverständlich sind. Der Virus hat uns vorgeführt, was es in der Realität bedeutet, wenn sich jeder auf sich selbst zurückzieht.“

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