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„Streiten über den richtigen Weg“

Die Frankfurter Buchmesse ist ein Ort des freien Worts: Bundesaußenminister Heiko Maas sprach sich zur Eröffnung dafür aus, ruhig mehr Widerspruch zuzulassen.

25.11.2019
Heiko Maas
Bundesaußenminister Heiko Maas eröffnete die Frankfurter Buchmesse Mitte Oktober. Ehrengast war Norwegen. © dpa

Erlauben Sie mir, dass ich den Außenminister für die nächsten zehn Minuten einmal ablege und ganz persönlich zu Ihnen spreche. Als einer von 82 Millionen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes. Als einer von fünf Milliarden Lesenden auf der Welt. Und als jemand, der sich Gedanken macht darüber, wohin sich unsere Gesellschaft gerade entwickelt. Eine Gesellschaft, die immer seltener ohne den Begleiter „digital“ auskommt. Wir sprechen vom „Digitalzeitalter“, von der „digitalen Revolution“. Die Digitalisierung hat tatsächlich längst jeden Teil unserer Wirklichkeit erfasst: wie wir lernen und arbeiten, wie wir lesen und kommunizieren, wie wir Freundschaften knüpfen, leben und lieben. Und wie jede Umwälzung stellt sie die alte Ordnung in Frage und zwingt uns, eine neue Ordnung zu finden. „Create your revolution“ – das ist nicht nur ein Aufruf zur Umwälzung. Sondern vielmehr ein Aufruf, ebendiese neue Ordnung zu schaffen!

Sehnsucht nach Zugehörigkeit

Und lassen Sie mich das sagen: Es spricht für die Modernität des norwegischen Königshauses, dass Ihre Königlichen Hoheiten auf einer Veranstaltung in der ersten Reihe sitzen, bei der in großen Lettern an der Wand „Create your revolution“ steht. Sehr geehrte Königliche Hoheiten, andere Majestäten können sich von Ihnen eine Scheibe abschneiden!

Die Digitalisierung birgt enorme Chancen – was Wissen, Mitbestimmung, Transparenz und auch Teilhabe angeht. Erst vor ein paar Wochen habe ich im Sudan junge Menschen getroffen, die gegen das Bashir-Regime auf die Straße gegangen sind. Ohne die Macht sozialer Medien wäre ihre friedliche Revolution wohl auf der Straße geendet oder vielleicht auch im Gefängnis – aber jedenfalls nicht in den Regierungsgebäuden von Khartum, wo sie jetzt sind.

Die Digitalisierung birgt die Chance auf eine Aufklärung 2.0.

Warum also beschleicht uns trotzdem immer öfter das Gefühl, dass ausgerechnet wir, die Kinder der digitalen Revolution in den westlichen Gesellschaften, am Ende die Ersten sind, die von ihr gefressen werden? Ich glaube, das hat mit den Blasen zu tun, die nicht nur am Aktien- und Immobilienmarkt nichts Gutes verheißen. Sie sind die Kehrseite der digitalen Revolution. Große Veränderungen wecken eben auch die Sehnsucht nach Bestätigung und Zugehörigkeit. Nach Begrenzung, die immer auch ein Stück Ausgrenzung ist. Nach absoluten Wahrheiten. Und ihrem Namen zum Trotz verstärken auch die „sozialen“ Medien diesen Trend. Weil sie komplexe Wirklichkeit auf unvollständige Hauptsätze reduzieren. Weil dort kaum Platz ist für Doppeldeutigkeit, für die unterschiedlichen Facetten des Lebens. Und davon profitieren diejenigen, die immer die einfachsten, kürzesten und die schnellsten Antworten parat haben. Wohlwissend, dass die Welt da draußen eben nicht in 280 Twitter-Zeichen erklärt ist.

Wir alle haben vor Augen, wohin diese Entwicklung im schlimmsten Fall führen kann. Oder warum überrascht es niemanden von uns, wenn wir hören, dass die Täter von Utøya, Christchurch oder Halle sich in ihren Online-Blasen radikalisiert haben? Dass sie dort die ersehnte Bestätigung suchten für ihre Menschenverachtung? Und sie auch bekamen. Und dass sie dort die Bauanleitungen fanden für die Waffen, mit denen sie aus rohen Worten rohe Taten machten? Erschütterung allein reicht nicht mehr. Denn: Unser „Nie wieder“ klingt nach jeder neuen Tat hohler und hohler.

Literatur eröffnet Freiräume

Natürlich muss Terror von rechts – und darüber reden wir gerade in unserem Land – genauso wie jede andere Art von Terrorismus zuerst und mit aller Härte von den Strafverfolgungsbehörden und dem Rechtsstaat bekämpft werden. Da waren wir lange blind. Aber damit ist es nicht getan! Weil jemand wie der Täter von Halle nicht nur Täter war. Sondern auch Nachbar, Arbeitskollege, Familienmitglied, Bekannter. Und damit ein Teil dieser, unserer Gesellschaft. Und deshalb tragen wir, trägt diese Gesellschaft eine Mitverantwortung, wenn wir alle paar Wochen wieder neue Opfer von Rassismus und Antisemitismus, von Hass und Hetze beklagen müssen.

Es ist höchste Zeit, dass auch wir hochschauen von unseren Smartphones. Den Blick weiten, statt ihn auf die Größe eines Displays zu verengen. Dass wir diskutieren, widersprechen, querdenken und auch streiten. Dass wir rauskommen aus unserer Konsens-Komfortzone. Denn sie ist auch nichts anderes als eine Blase. Die Buchmesse ist ein guter Ort, um darüber zu reden. Weil ich glaube, dass Sie, als Autorinnen, Verleger, Übersetzerinnen, eine ganz zentrale Rolle dabei spielen, uns aus unseren Blasen herauszuholen. Literatur eröffnet nicht nur ästhetische Freiräume. Sie erschließt uns neue Welten und andere Sichtweisen. In einer Welt, die nach schnellen, einfachen Antworten lechzt, hilft die langsame Kraft der Literatur, uns vor autoritären Reflexen, vor allzu einfachen Antworten und vor Abschottung zu schützen.

Literatur, so hat es Hinrich Schmidt-Henkel einmal beschrieben, der übrigens viele norwegische Bücher großartig übersetzt hat, sei die „Stimme des Sprachkünstlers, die im Erzählen einen ganz bestimmten Blick auf die Welt eröffnet und eine Haltung deutlich macht“. Das passt ganz besonders auf die norwegische Literatur. Und ist ein Grund, warum norwegische Bücher in Deutschland so viele Leserinnen und Leser finden. Tief in der eigenen Geschichte verwurzelt und oft radikal subjektiv, konfrontieren sie uns mit den Menschen rechts und links von uns. Mit ihren Schicksalen, Träumen und Ängsten.

Andere Haltungen gelten lassen

Wer Tomas Espedals „Bergeners“ liest, der fürchtet nicht nur, der alltägliche Regen in Bergen würde einem irgendwann selbst auf den Kopf prasseln. Sondern der sieht die Bewohner dieser Stadt, und er muss nahezu eintauchen in ihre Gedankenwelt. Lesen zwingt uns zur Anteilnahme. Und gerade norwegische Bücher schonen uns nicht. Wenn sie uns den Schmerz einer Familie mitfühlen lassen, die beim Massaker auf Utøya ein Kind verloren hat. Oder uns hineinziehen in das Leben zweier muslimischer Teenager in Stovner, einem der typischen Einwandererviertel von Oslo. So sehr, dass uns Zweifel kommen an unserem großartigen Credo von Chancengleichheit und Willkommenskultur.

Lesen, das heißt auch andere Haltungen als die eigene gelten lassen. Und gelten lassen setzt nicht einmal Verstehen voraus. Das heißt, Vieldeutigkeit zuzulassen und mitzuempfinden. So paradox es klingen mag: Lesend verlassen wir die Blase. Und genau deswegen hat Toni Morrison so recht: Lesen ist ein „kühner und rebellischer Akt“. Und damit sind wir wieder bei der Revolution. Wenn Literatur das Zeug hat, unsere Blasen zum Platzen zu bringen, dann wird Lesen in der Tat zum revolutionären Akt. Deshalb ist es auch keine rein kulturpolitische Diskus­sion, ob und wie wir Literatur und mit ihr auch ­Autoren und Übersetzer fördern. Sondern es ist eine ganz zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe. Norwegen setzt auf die Kraft der Literatur.

Jeder Norweger liest im Schnitt stolze 15 Bücher pro Jahr. Wie in kaum einem anderen Land wird dort der Export von Literatur gefördert. Auch deshalb ist Norwegen eine glückliche Wahl als Gastland der Frankfurter Buchmesse. Es ist uns Vorbild und Ansporn – dafür zu sorgen, dass auch noch mehr deutschsprachige Literatur übersetzt wird. Denn Erik Fosnes Hansen hat im Vorfeld der Buchmesse völlig zu Recht gesagt: „Ohne Übersetzer gäbe es keine Weltliteratur.“ Und es gäbe weniger Verständigung, denn dafür muss man sich erst einmal verstehen können, und als Außenminister weiß ich, wovon ich spreche.

Dass Literatur mehr ist als schwarze Schrift auf weißem Papier, das zeigt übrigens auch die Geschichte der letzten Medienrevolution. Sie begann nur wenige Kilometer von hier. In Mainz, sozusagen einer Art Silicon Valley des Mittelalters. Dort wurde 1450 der Buchdruck erfunden. Ja, das ist vergleichbar, finde ich. Auch damals ging die Angst um bei den Menschen. Angst vor Missbrauch des neuen Mediums. Angst, dass Menschen dadurch manipuliert werden könnten. Dass Wissen rebellisch macht. Dass Chaos entsteht und den Mächtigen die Kontrolle entgleitet. Vieles davon klingt irgendwie vertraut. So wie der Buchdruck die Welt radikal verändert, so wird auch die Digitalisierung unsere Welt revolutionieren.

Aber zur Wahrheit gehört auch: Die Aufklärung, die Reformation, der Humanismus, der unser Denken bis heute prägt oder zumindest prägen sollte – all das wäre ohne den Buchdruck in dieser Form unvorstellbar gewesen. Er hat den Menschen quasi neu formatiert. Und uns vom Mittelalter in die Neuzeit katapultiert. Und so birgt auch die Digitalisierung, trotz aller Bedenken, die der eine oder andere hat, die Chance, unsere Welt zum Besseren zu verändern. Die Chance auf eine Aufklärung 2.0. Wohin Gesellschaften steuern, ist nicht vom Zufall abhängig, sondern von uns. Auch Algorithmen sind menschengemacht. Und das Verhalten einer Gesellschaft ist auch heute noch die Summe des Verhaltens aller ihrer Mitglieder. Deshalb: Raus aus der Blase! Streiten wir über den richtigen Weg – miteinander, nicht in erster Linie gegeneinander! Akzeptieren wir Widerspruch – nein, haben wir den Mut dazu, ihn sogar zu fördern! Zu widersprechen hat nichts Verwerfliches! Kompromisse zu finden übrigens auch nicht.

Das mag alles anstrengend, unbequem und lästig sein. Aber nur so entsteht der Raum für notwendige Begegnungen. Und nur so bleibt sie menschlich, unsere Revolution!

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