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Werden die Medikamente knapp?

Branchenkenner Han Steutel über mögliche Lieferengpässe von Medikamenten aus Indien und China und den Pharma-Standort Deutschland.

Interview: Martin Orth, 15.06.2020
Apothekerin in Deutschland
Apothekerin in Deutschland © dpa

Herr Steutel, man hörte zuletzt häufiger, dass es zu Lieferengpässen von lebensnotwendigen Medikamenten aus Indien beziehungsweise China kommen kann. Was ist da dran?

Grundsätzlich kann es in jedem Land der Welt zu Produktionsengpässen kommen. Gegen technische Probleme oder Naturkatastrophen ist niemand gefeit. Die Corona-Pandemie zum Beispiel hat Produktionsstandorte der Pharmaindustrie in Norditalien ebenso getroffen wie solche in China. Beide Länder hatten mit den Auswirkungen zu kämpfen.

Indien ist zu einem der wichtigsten Generikastandorte weltweit aufgestiegen.
Han Steutel, Vorsitzender des deutschen Verbandes forschender Arzneimittelhersteller

Warum werden eigentlich so viele Medikamente in Indien produziert?

Ich komme gleich auf Indien. Aber vergessen wir nicht, wie es in Deutschland ist. Wir haben hier einen der besten Produktionsstandorte für Arzneimittel. Deshalb produzieren die forschenden Pharma-Unternehmen hier Medikamente, die gegen Krebserkrankungen, Rheumatoide Arthritis, Schlaganfall, Diabetes und Hepatitis C zum Einsatz kommen. Impfstoffe zum Schutz vor Grippe, FSME, Tollwut, Tetanus, Diphtherie, Ebola sowie Pertussis und andere Meningokokken werden ebenfalls hierzulande hergestellt. Die Produktion von Corona-Impfstoffen wird gerade vorbereitet. All dies sind patentgeschützte Arzneimittel. Laufen diese Patente in Zukunft einmal aus, kann ein Arzneimittel von jedem, der dazu die technischen Mittel hat, überall auf der Welt nachgebaut und produziert werden. Dann fallen auch die Preise stark. Indien hat sich über Jahrzehnte sehr gut auf diesen Bereich im Lebenszyklus eines Arzneimittels spezialisiert und sein technisches Know-how zusammen mit einer niedrigen Kostenstruktur in die Waagschale des internationalen Wettbewerbs geworfen. So ist es zu einem der wichtigsten Generikastandorte weltweit aufgestiegen.

Han Steutel, Vorsitzender des vfa
Han Steutel, Vorsitzender des vfa © vfa

Können Sie beziffern, in welchen Ländern beziehungsweise Weltregionen die in Deutschland verkauften Medikamente produziert werden?

Die hierzulande eingesetzten Medikamente kommen aus vielen Ländern: aus Deutschland selbst, von europäischen Nachbarländern, aus Nordamerika, Indien, China, Japan und Singapur. Beziffern kann ich, dass der Wert der Arzneimittel-Ausfuhren aus Deutschland nach China und Indien im vergangenen Jahr rund 4 Milliarden Euro betrug. Der Wert der Einfuhren aus diesen Ländern machte gerade einmal die Hälfte aus, also rund 2 Milliarden Euro. Es sind vor allem patentgeschützte Arzneimittel, die Chinesen aus deutscher und europäischer Produktion beziehen, deutlich mehr als wir von ihnen. Bei Generika und den dafür benötigten Grundstoffen ist es umgekehrt: Da sind China und Indien die Exportgiganten. Kurz gesagt: China und Indien brauchen uns – und wir sie.

In letzter Zeit wurden Stimmen laut, die Produktion von Medikamenten wieder nach Europa zu holen. Was halten Sie davon?

Ich spreche für die forschenden Pharma-Unternehmen. Und Forscher schauen lieber in die Zukunft als in die Vergangenheit. Die Zukunft sieht besser aus, wenn sich Deutschland vor allem dafür stark macht, die Medizin von morgen zu produzieren, etwa Biopharmazeutika, Gentherapien und Impfstoffe. Der Pharma-Standort Deutschland ist nämlich besonders gut, wenn es um High-Tech-Produktion geht. Das hat sich gerade auch in der Corona-Krise gezeigt. Und das ist ein unübersehbarer Wegweiser, wo es für Deutschland im internationalen Standortwettbewerb langgehen kann, wenn wir morgen erfolgreich sein wollen.

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