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Do it yourself 4.0

Mit Hilfe digitaler Technik kann kann heute jeder Dinge selbst entwickeln und herstellen. Willkommen im „Fab Lab“, dem Wohnzimmer der Berliner „Maker-Bewegung“

Helen Sibum, 28.09.2016

Die Familie Bötzow hatte so ziemlich alles erreicht, was deutsche Industrielle Ende des 19. Jahrhunderts erreichen konnten: größte Privatbrauerei ­Norddeutschlands, Hoflieferant des Königs von ­Preußen, ein Biergarten für Tausende Gäste. Doch auch die erfolgreichsten Betriebe werden oft schnell von der Entwicklung überholt. Nach nicht mal 65 Jahren stellte die Brauerei 1949 den Betrieb ein. Seitdem lag das Areal im früheren Ostteil Berlins lange im Dornröschenschlaf.

Würde der 14-jährige Sami einen Moment von seiner Arbeit aufschauen, er sähe durch das Fenster direkt auf die alte Brauerei mit dem Baugerüst und dem hochgewachsenen Unkraut. Doch Sami sieht nicht auf, er ist zu beschäftigt mit seinem Projekt – dem Umbau seines alten 3D-Druckers. Für die neuen Teile braucht er: einen weiteren 3D-Drucker. Den findet er hier im Fab Lab, einer modernen Tüftlerwerkstatt.

Der Flachbau im Ortsteil Prenzlauer Berg ist deutlich größer und besser ausgestattet, als es die Garage von Bill Gates vermutlich war. Der hier herrschende Geist aber ist vielleicht ein ähnlicher: Verteilt über den offenen Raum sitzen junge Leute in Gruppen zusammen vor Bildschirmen und Apparaturen. Aus der unverkleideten Decke kommen Kabel, manche münden in bunte Plastikwürfel mit Steckdosen, die über den Tischen baumeln. Eine Einladung, den Laptop einzustöpseln und loszulegen.

Wer hier arbeiten möchte, kommt an den „Zehn Geboten“ des Fab Lab allerdings nicht vorbei, sie hängen gleich am Eingang an der Wand. Auf die erste Regel – Sei freundlich und lächle! – folgt zweitens: Teile dein Wissen! „Die Menschen, die hierherkommen, haben bestimmte Ideale“, sagt Daniel Heltzel, ein Manager des Lab. Dazu gehört der Glaube an „Open Source“, an das Öffentlichmachen von Programmiercodes, auf dass Erfindungen ständig weiterentwickelt und verbessert werden. Klingt harmlos, birgt aber Stoff für historische Umbrüche. Denn die vierte industrielle Revolution spielt sich nicht nur in ­Fabriken ab. Industrie 4.0 – das bedeutet auch: Jeder kann heute selbst Produkte entwerfen und herstellen. „Maker“ nennen sich diejenigen, die darin fast schon eine Lebenseinstellung sehen.

Der Begriff geht zurück auf den US-amerikanischen Internetvordenker Chris Anderson. In seinem Buch „Makers“ von 2012 beschreibt er die gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung der Digitalisierung. „Das Web hat die Mittel für Innovation und Produktion demokratisiert. Jeder kann mit einer Idee und einem Laptop die Grundlage für eine Firma legen, die die Welt verändert.“ Klar, dass man dabei zuerst an Digitalunternehmen wie Facebook denkt. Ein eingeschränkter Blick, schreibt Anderson: „So groß die Informationsindustrie inzwischen auch sein mag, sie ist immer noch nur ein Nebenschauplatz der Weltwirtschaft.“ Kaum vorzustellen, so der Autor, was eine ähnliche Entwicklung in der realen Welt der Dinge auslösen würde.

Diese Entwicklung zeigt sich längst – zum Beispiel im Fab Lab. Wenn Sami seinen 3D-Drucker auf Hochleistung trimmt, mag man das noch unter „Jugend forscht“ einordnen. Doch hier haben auch schon echte wirtschaftliche Erfolgsgeschichten begonnen – wie die von Soundbrenner. Das Unternehmen verkauft ein tragbares Me­tronom. Es sieht aus wie eine Armbanduhr und lässt seinen Nutzer den Takt mittels Vibration spüren. Musiker von Stars wie Rihanna testeten das Gerät, Investoren stellten den jungen Gründern 500 000 US-Dollar zur Verfügung, ein Zweitsitz in Hongkong wurde eröffnet. Im Fab Lab, wo die Geschichte begann, hat Soundbrenner ebenfalls eine feste Adresse: Gleich neben dem Labor liegt – verbunden durch eine Glastür – ein sogenannter Coworking Space. Sobald Projekte professioneller werden, können sie dort Arbeitsplätze mieten.

Der Coworking Space wirkt auf den ersten Blick wie ein etwas chaotisches Großraumbüro. Er ist aber viel mehr, sagt Dorota Orlof. Die polnische Designerin und Illustratorin lebt seit drei Jahren in Berlin. Im Laufe der Zeit hat sie in vielen Coworking Spaces gearbeitet, aber nie gefunden, was sie suchte: kreative Impulse und Raum für Austausch. Das Fab Lab biete all das. „Dieser Ort hat eine Energie.“ Gerade steht Orlof mit einem jungen Mann zusammen, der per Laserschneider ein filigranes Muster in ein Stück Pappe geschnitten hat. Er will es als Schablone nutzen, aber mit welcher Art Farbe kommt man auch in die feinen Ecken? Dorota gibt Ratschläge, andere treten hinzu und fachsimpeln mit.

Neben Nutzern helfen auch Mitarbeiter des Fab Lab bei Fragen weiter. Regelmäßige Einführungskurse richten sich an neue Besucher, jeden Freitag ist „Open Lab Day“. Wer häufiger kommen möchte, wird Mitglied. Für zehn Euro im Monat gibt es die 
3D-Drucker-Flatrate, die 150 Euro teure Premium-Mitgliedschaft am anderen Ende der Preisskala eröffnet auch den Zugang zu Elektronik-, Textil- und Holzwerkstatt, zum Laserschneider und zur digital gesteuerten Fräse. Ein Paradies für Maker.

Doch mit den Mitgliedsbeiträgen allein lassen sich die Kosten nicht decken. Eine Gruppe von Ingenieuren und Produktdesignern des Lab bietet deshalb Beratung für Unternehmen an, die Einnahmen fließen in die Finanzierung. Zudem gibt es eine strategische Partnerschaft mit Ottobock. Das Medizintechnikunternehmen ist auch Vermieter der Räume – der Firmenchef hat das Brauereigelände gekauft und will es neu beleben.

Im Fab Lab ist schon jetzt jede Menge los. Viele hier sehen es als eine Art Wohnzimmer der ­Maker-Familie – man kommt auch zum reden, entspannen, Leute treffen. In der offenen Küche stehen Sofas und ein Kühlschrank mit Getränken, daneben eine Spendendose. Club Mate geht am besten: Die koffeinhaltige Limonade gilt 
als Szenegetränk und „Hackerbrause“. Gegen Abend ersetzt Bier zunehmend die Limo, im Hintergrund läuft Musik.

Morten Modin arbeitet noch. Der Bildhauer blickt prüfend auf einen 3D-Drucker, in dem Schicht für Schicht ein transparentes, gezacktes Objekt entsteht. Es ist Teil eines Kunstwerks, das Modin für einen Skulpturenpark in seiner dänischen Heimat erstellt. Sechs Wochen wird es dauern, alle Teile für das zwei Meter breite und mehr als einen Meter hohe Werk zu drucken. Es besteht aus einem Material, das sich im Laufe der Zeit selbst abbaut. Modin gefällt die Idee, dass sein erstes digital gefertigtes Werk mitten in der Natur stehen wird – und nach zehn bis 15 Jahren einfach verschwindet. Im „Fab Lab“ werden sie dann wahrscheinlich längst mit völlig neuen Technologien arbeiten. ▪