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Austausch zur Erinnerung

Fachleute aus Lateinamerika und Europa über das kulturelle Gedächtnis ihrer Länder und die besondere Bedeutung von Gedenkorten.

Constanze Bandowski, 04.02.2021
Denkmal für die Ermordeten Juden Europas in Berlin
Denkmal für die Ermordeten Juden Europas in Berlin © dpa/pa

Für den argentinischen Bundesrichter Daniel Rafecas ist es gerade acht Uhr früh. Trotzdem blickt er hochkonzentriert in die Kamera, während seine Gesprächspartnerinnen und -partner in Deutschland, Kolumbien und Polen auf dem Bildschirm erscheinen. Sie wollen über „Erinnerungsorte“ sprechen – und ausloten, inwiefern ihre Länder bei der Aufarbeitung der Vergangenheit voneinander lernen können. Wie gehen Gesellschaften in Lateinamerika und Europa mit Opfern, Tätern und Erinnerung um? Diese Frage steht über dem virtuellen Treffen, das die Elisabeth Käsemann Stiftung organisiert hat.

Aleida Assmann, Kulturwissenschaftlerin
Aleida Assmann, Kulturwissenschaftlerin © dpa/pa

Daniel Rafecas ist seit 17 Jahren an der juristischen Aufarbeitung der Militärdiktatur in seinem Heimatland beteiligt. Er diskutiert an diesem Tag mit der deutschen Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, Historikerin Tatjana Louis von der Universidad de los Andes in Bogotá, Tomasz Michaldo, zuständig für die Bildungsarbeit der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, und Elke Gryglewski, Leiterin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, zu denen unter anderem das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen gehört.

Authentische Plätze ermöglichen Gefühle direkter Erinnerung.
Aleida Assmann, Kulturwissenschaftlerin

Assmann zitiert eingangs Cicero: „Groß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt.“ Authentische Schauplätze ermöglichten Gefühle direkter Erinnerung, so die renommierte Forscherin. Erinnerungsarbeit sei gerade an Orten traumatischer Ereignisse wichtig, um den Opfern Platz im kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft zu verschaffen. „Wenn die Geister der Vergangenheit die Gegenwart heimsuchen, kann die Zeit keine Wunden heilen.“

Elke Gryglewski, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten
Elke Gryglewski, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten © dpa/pa

Auch Elke Gryglewski unterstreicht die Bedeutung von Erinnerungsorten. Doch es komme darauf an, wie man sie gestalte. Deutschland habe inzwischen eine differenzierte und vielfältige Erinnerungslandschaft mit einer starken Professionalisierung im Bildungsbereich. „Gefühle spielen dabei eine wichtige Rolle“, so Gryglewski. „Wie fühlt sich Demokratie an? Dieses Wissen bildet das Fundament für den sensiblen Umgang mit aktuellen Formen von Diskriminierung, Antisemitismus und Rassismus.“

Wir müssen klarmachen, dass Auschwitz nicht vom Himmel gefallen ist.
Tomasz Michaldo, Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau

Tomasz Michaldo von der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau setzt in seiner Bildungsarbeit ebenfalls auf Emotion. „Wir wollen, dass die Menschen das Gelände mit einem Gefühl der Furcht verlassen. Sie sollen erkennen, dass das Böse überall lauert und wir es schon in den Anfängen bekämpfen müssen.“ Der Historiker zitiert den Holocaust-Überlebenden Marian Turski: „Wir müssen den Menschen klarmachen, dass Auschwitz nicht vom Himmel gefallen ist.“

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In Argentinien befinden sich viele Orte der Erinnerung noch im Entstehen. „Die geheimen Folterzentren verteilen sich über das gesamte Land“, sagt Richter Rafecas. „Die meisten sind zerstört, aber die noch existierenden bilden eine wichtige Forschungsquelle.“ Der erfahrene Ermittler plädiert für gemeinsame Besuche von Zeitzeugen: „Ihre Interaktion am Ort des Schreckens ruft Erinnerungen hervor, das ist extrem wichtig für die Aufklärungsarbeit.“ Rafecas kann auch einen aktuellen Erfolg für das Gedenken verkünden: Das unter einer Schnellstraße in Buenos Aires begrabene Folterzentrum Club Atlético wird endlich freigelegt.

Die Vergangenheit ist hier zugleich Gegenwart und Zukunft.
Tatjana Louis, Historikerin an der Universidad de los Andes in Bogotá

„Auch Kolumbien steht vor großen Herausforderungen“, berichtet Tatjana Louis. Das Land befinde sich noch mitten im Konflikt. „Die Vergangenheit ist hier nicht Vergangenheit, sondern zugleich Gegenwart und Zukunft. Es gibt zu viele Orte des Schreckens und es fehlt der zeitliche Abstand. Außerdem liegen die meisten Schauplätze in unzugänglichen Gebieten.“ Dennoch gelte: „Kolumbien braucht Orte des Erinnerns und der Forschung, um ein neues Narrativ für die Gesellschaft zu schaffen.“

Tatjana Louis, Historikerin an der Universidad de los Andes in Bogotá
Tatjana Louis, Historikerin an der Universidad de los Andes in Bogotá © dpa

Die Fachleute sind sich einig, dass internationale Kooperation wichtig ist. „Kein Land ist mit der Aufarbeitung fertig“, sagt Elke Gryglewski, „alle sind im Prozess des Lernens und in der globalisierten Gesellschaft miteinander verbunden.“ Auch Aleida Assmann betont, Erinnerungsarbeit könne nicht isoliert geschehen. „Die transnationale Aufmerksamkeit ist extrem wichtig.“

Die Expertinnen und Experten teilen auch die Einschätzung, dass man beim Thema Digitalisierung der Erinnerungsarbeit voneinander lernen könne und das auch aktiv tun sollte. „Noch vor einem Jahr hätten wir niemals gedacht, dass wir einen virtuellen Rundgang anbieten würden“, sagt Tomasz Michaldo. Nun werden im Frühjahr 2021 die ersten Gäste die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau online besuchen. „Die Corona-Pandemie hat unseren Ansatz komplett verändert.“

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