Zum Hauptinhalt springen

„Die positiven Kräfte in Europa stärken“

Die Politikwissenschaftlerin Daniela Schwarzer spricht über die Bedeutung der Europawahl, Herausforderungen für die EU und notwendige Reformen.

Carsten HauptmeierCarsten Hauptmeier, 02.05.2024
Politikwissenschaftlerin Daniela Schwarzer
Politikwissenschaftlerin Daniela Schwarzer © Besim Mazhiqi

Die Zukunft der Europäischen Union ist seit Jahren ein zentrales Thema in der Arbeit der Politikwissenschaftlerin Daniela Schwarzer. Sie war Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und ist Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung, sie gehört zudem einer von der deutschen und französischen Regierung einberufenen Arbeitsgruppe zur Reform der EU an. Sie spricht über die Europawahl, Herausforderungen für die EU und auch deren Stärke.

Frau Professorin Schwarzer, welche Bedeutung haben die Europawahlen im Vergleich zu nationalen Wahlen in Deutschland oder anderen EU-Staaten? 

Wenn im Juni mehr als 400 Millionen Europäerinnen und Europäer ihr neues Parlament wählen, bestimmen sie maßgeblich den Kurs mit, den die EU in den nächsten fünf Jahren einschlagen wird. Sie wählen ihre neuen Abgeordneten, mit deren Zustimmung danach die Europäische Kommission und andere europäische Spitzenpositionen besetzt werden. Das Parlament spielt außerdem eine entscheidende Rolle in der Gesetzgebung, beim EU-Haushalt und bei internationalen Abkommen. In vielen Bereichen entscheidet es auf Augenhöhe mit den Regierungen im Ministerrat. 

Daher ist es auch so wichtig, am 9. Juni wählen zu gehen. Bei der vergangenen Europawahl 2019 war die Wahlbeteiligung europaweit mit 50,6 Prozent erfreulich hoch. Dies war der höchste Wert seit 1994, weil vor allem jungen Menschen – viele von ihnen besorgt um das Klima – mitstimmten. Sie gilt es auch 2024 wieder zu mobilisieren, denn in mehreren EU-Staaten, darunter auch Deutschland, darf erstmals ab 16 gewählt werden. 

Wird die Wahl auch als eine solche europapolitische Kursbestimmung wahrgenommen?

Der Blick auf große gemeinsame Zukunftsfragen bleibt herausfordernd, wenn Kampagnen immer noch national geführt und gestaltet werden. Auch zur zehnten Europawahl gibt es keinen gemeinsamen Wahltag, das Wahleintrittsalter schwankt zwischen 16 und 21 Jahren. Abgestimmt wird für nationale Kandidaten auf nationalen Listen von nationalen Parteien, europäische Parteien gibt es nicht. Auch 2024 könnte die Europawahl somit wieder einmal zum Stimmungstest für nationale Regierungen werden – in Deutschland etwa eine Art vorgezogene Bundestagswahl. Dabei wäre es angesichts der politischen Großfragen und Risiken an der Zeit für eine gemeinsame politische Erzählung und für einen europaweiten Wahlkampf. 

Das Europäische Parlament in Straßburg
Das Europäische Parlament in Straßburg © picture alliance / ANP / Ramon van Flymen

Vor welchen zentralen Herausforderungen steht die EU aktuell und in der kommenden Legislaturperiode des Europäischen Parlaments?

Europa muss sich in einer Welt behaupten, die sich immer schneller verändert und konfliktreicher wird. Seit Februar 2022 wird unser Kontinent vom Krieg in der Ukraine erschüttert, China versucht in unfairer Konkurrenz zur wichtigsten Weltmacht aufzusteigen und die internationale Ordnung nach seinen Maßstäben, die nicht europäischen Werten entsprechen, umzugestalten. Unser Verhältnis zu den USA wird maßgeblich vom Ausgang der dortigen Wahl im November mitbestimmt, und die starke Rolle der USA für Europas Sicherheit dürfte sich wandeln.

Europa muss also mehr tun für seine Sicherheit, seine Wettbewerbsfähigkeit, seinen inneren Zusammenhalt und externe Handlungsfähigkeit – kurzum: für Wohlstand, Demokratie und Frieden auf unserem Kontinent, für eine sozial- und demokratieverträgliche grüne und digitale Transformation. Das sind sehr große Aufgaben, die kein Mitgliedsstaat allein, auch nicht so ein großes Land wie Deutschland, bewältigen könnte.

Die EU ist ein einmaliger Zusammenschluss erfolgreicher Demokratien und ein großer Markt.
Daniela Schwarzer

Die wichtigste Aufgabe bleibt bei alldem, die positiven Kräfte in Europa zu stärken und eine positive Zukunftsvision zu entwickeln. Die EU ist ein einmaliger Zusammenschluss erfolgreicher Demokratien und ein großer Markt – deshalb wollen auch weitere Staaten und vor allem Bürgerinnen und Bürger dazu kommen. Es gibt in der EU viele Gründerinnen und Gründer, exzellente Forscherinnen und Forscher, eine sehr engagierte Zivilgesellschaft. Sie alle müssen Teil der Antwort sein auf die Herausforderungen, die den Zukunftsoptimismus der Bürgerinnen und Bürger, insbesondere der jungen Generation, eintrüben. Dafür muss sich die EU an manchen Stellen flexibilisieren und kreativer werden und der Untergrabung demokratischer Kultur in einigen Mitgliedstaaten entgegenwirken. 

Die wichtigste Aufgabe bleibt bei alldem, die positiven Kräfte in Europa zu stärken und eine positive Zukunftsvision zu entwickeln.
Daniela Schwarzer

Welche Rolle spielt die mögliche Erweiterung der Europäischen Union?

Die Frage nach der politischen Geografie Europas stellt sich seit Russlands Angriff auf die Ukraine neu. 20 Jahre nach der Osterweiterung werden weitere EU-Beitritte mittlerweile wieder als dringender Schritt gesehen, um die EU-Nachbarschaft zu stabilisieren und der wachsenden Dominanz Russlands und Chinas auf dem Kontinent entgegenzuwirken. In der nächsten Legislatur muss die EU sich intern vorbereiten. Denn eine Erweiterung ist nur dann sinnvoll, wenn sie die Union auch stärker macht. Ohne eine neue Priorisierung, eine Überarbeitung der Finanzierung der entsprechenden Politiken sowie Reformen von Institutionen und Entscheidungsmechanismen, die bereits heute teilweise an ihre Grenzen stoßen, wird das nicht erfolgreich gelingen.