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Ein Mann, der polarisiert

Auch zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys sind sich die Kritiker uneinig, was von ihm zu halten ist. Eine Jahrhundertfigur ist er allemal. Eine aktuelle Rückschau.

Jürgen Moises, 05.05.2021
Beuys-Graffiti in Düsseldorf
Beuys-Graffiti in Düsseldorf © picture alliance/dpa

Nur einmal hat er öffentlich seinen Filzhut abgenommen. Das war im Jahr 1972 in Kassel, als Joseph Beuys bei der Documenta 5 in einem Boxkampf gegen seinen Schüler David Christian-Moebuss antrat. Damals hatte der Künstler als Documenta-Beitrag ein „Büro für direkte Demokratie und Volksabstimmung“ dort eingerichtet und vor dem Boxkampf, den er nach drei Runden gewann, drei Monate lang mit seinem Publikum über Kunst und die Abschaffung der Parteien diskutiert. Joseph Beuys war da Anfang 50 und in der deutschen Kunstszene ein Star. Mit seinem Filzhut und der  Anglerweste wurde er zu einer ikonischen Figur, die man nach Auftritten in Talkshows auch auf der Straße erkannte. In den USA machte ihn Mitte der 1970er-Jahre eine Aktion bekannt, bei der er mehrere Tage mit einem Coyoten in einer Galerie verbrachte. Er traf den Dalai Lama, pflanzte 7.000 Eichen in Kassel. Er kandidierte für die damals neu gegründete Partei Die Grünen und trat mit einem politischen Popsong im Fernsehen auf.

Das alles machte Joseph Beuys, der am 12. Mai 100 Jahre alt geworden wäre, im Namen der Kunst. Er machte es, um die Menschheit vor den Zumutungen der Moderne zu retten und sie mit einem unerbittlichen Glauben an die Kunst von ihren Wunden und Ängsten zu heilen. Dafür war ihm nahezu jedes Mittel recht. Und vielleicht wäre der Zeichner, Bildhauer, Aktivist, Lehrer und Kunst-Schamane, der den Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ prägte, heute ein Youtube-Star. Aber auch so wurde er zum einflussreichsten deutschen Nachkriegskünstler und wie Andy Warhol zu einer Jahrhundertfigur. Von seinen Anhängern und Schülern wurde Beuys, der 1986 starb, geliebt und bewundert, von seinen Gegnern wurde er verspottet und gehasst. Er war ein Mann, der polarisierte. Und das wird auch in diesem Jubiläumsjahr so sein, das vor allem in Nordrhein-Westfalen groß begangen wird

Die Legende von den Tataren

Denn dort, in Krefeld, wurde Joseph Heinrich Beuys am 12. Mai 1921 geboren. Er wuchs als Kaufmannssohn in Kleve auf, studierte später Monumentalbildhauerei an der Kunstakademie in Düsseldorf, wo er ab Anfang der 1960er-Jahre auch als Lehrer wirkte. In den Jahren dazwischen lag der Zweite Weltkrieg, der in seiner Biografie eine wichtige, aber auch verklärte Rolle spielt. Joseph Beuys war Hitlerjunge und nahm an der Klever Bücherverbrennung auf dem Schulhof seines Gymnasiums teil. Er verpflichtete sich für zwölf Jahre zur Luftwaffe und schoss als Bordschütze eines Sturzkampfflugzeugs wohl auf viele Menschen. Dass er nach seinem Flugzeugabsturz auf der Krim im März 1944 von Tataren gepflegt, mit tierischem Fett gesalbt und mit Filz warmgehalten wurde, gilt heute als erfundene Legende. Laut Beuys war es eine „zweite Geburt“, mit der er später seine Vorliebe für Fett und Filz als künstlerische Materialien erklärte.

Die Geschichte mit der Badewanne

Fett und Filz können Energie speichern und Wärme halten, und Wärme war für Beuys der Katalysator für Kreativität. Nur durch Kreativität, so glaubte er, könne der Mensch zur Freiheit und sich selbst finden und dann gestaltend auf die Gesellschaft einwirken. Neben Filz oder Fett, wie er es in berühmten Arbeiten wie der von einer Putzfrau gereinigten „Badewanne“ einsetzte, Wachs, Honig oder Tierknochen waren für Beuys auch Aktionen, Ideen und Gedanken künstlerisches Material. Das meinte er auch mit dem „erweiterten Kunstbegriff“, und die künstlerische Gestaltung der Gesellschaft verstand er als „soziale Plastik“. Zwei Begriffe, die für Beuys sehr wichtig waren.

Die Nähe zur Anthroposophie

Die Idee, dass Kunst seelische Wunden heilt, durfte wiederum auf Erlebnisse in den Fünfzigern zurückgehen. Beuys litt damals unter schweren Depressionen, wegen einer aufgelösten Verlobung und wohl auch wegen der nicht verarbeiteten Zeit im Dritten Reich. Hilfe fand er bei der Familie van der Grinten, bei der er auf dem Bauernhof in Kleve aushalf, sowie in Büchern, theoretischen Schriften. Nietzsche, Goethe, Hamsun, religiöse und ökologische Ideen wurden seine Wegweiser, aber am Prägendsten waren Rudolf Steiner und die Anthroposophie. Wenn Beuys von der „Seele“, „Heilung“, „Auferstehung“ oder dem „deutschen Genius“ spricht, dann schwingt das Denken Steiners mit. Dann wird es esoterisch und befremdlich. Und weil sich bei Steiner auch völkische, rassistische Tendenzen finden, gehört Beuys‘ Nähe zur Anthroposophie zu den Dingen, die man heute kritisiert.

Die aktuelle Rezeption

Dann gibt es aber auch Joseph Beuys, den leidenschaftlichen Redner und Lehrer, der mit Katharina Sieverding, Jörg Immendorff oder Blinky Palermo eine ganze Künstlergeneration geprägt hat. Es gibt Beuys, den Aktivisten, der unsere Vorstellung von Kunst verändert hat. Der gezeigt hat, dass Kunst keine Frage des Materials, sondern der Haltung ist. Dafür wird er in einer aktuellen Ausstellung in Düsseldorf in die Nähe von Edward Snowden und Greta Thunberg gerückt, während ihn andere als Steiner-Jünger und Gegner der parlamentarischen Demokratie in die „Querdenker“-Ecke stecken wollen. Humor hatte Beuys übrigens auch und er war ein hervorragender Zeichner. Und all diese Facetten und Widersprüche gilt es nun unter einen Hut zu bringen. Was schon alleine deswegen nicht einfach ist, weil sich Kunst und Künstler bei Beuys nicht trennen lassen. Auch das gehört zu seinem Erbe. Hinzu kommt: Er, der mit jedem, der es wollte, stundenlang über sein Werk, Kunst und Gesellschaft diskutieren konnte, kann nicht mehr Rede und Antwort stehen. Nun müssen wir über ihn sprechen, und sein 100. Geburtstag ist dafür ein guter Anlass.

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