Syrien: Wo Architektur politisch ist
Zwischen Ruinen und Hoffnung: Eine Berliner Organisation und ihr Gründer setzen alles daran, aus Trümmern gerechte Städte entstehen zu lassen.

Edwar Hanna findet keine Worte für das Gefühl, das er hatte, als er zum ersten Mal nach Jahren wieder durch die Straßen von Damaskus lief. Im Januar 2025, wenige Wochen nach dem Sturz des Assad-Regimes, ging er durch zerstörte Stadtviertel. Zum ersten Mal nach zehn Jahren war er in seine Heimat zurückgekehrt. „Erst als ich dort stand, habe ich realisiert, dass die Arbeit der letzten acht Jahre nicht umsonst war“, erzählt er. Denn der Bürgerkrieg in Syrien ist vorerst vorbei und der Wiederaufbau rückt in Sichtweite.
Hanna ist Gründer und Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation Syrbanism. Seit 2016 arbeitet er von Berlin aus daran, den Wiederaufbau in Syrien nach Ende des Bürgerkriegs – das noch bis vor kurzem in unabsehbarer Ferne lag – im Sinne der Bevölkerung zu gestalten. Dazu dreht Syrbanism seit seiner Gründung Erklärvideos, bringt syrische Architekten im Exil zusammen und vernetzt Akteure aus Wirtschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Städtebau als gesellschaftliche Aufgabe
Hanna und seine Mitgründerin Nour Harastani haben gemeinsam Architektur und Urban Design in Damaskus studiert, sie verließen noch während des Studiums das Land – und kamen wegen des Kriegs nicht wieder. Ihren Studiengang nenne man auch „politische Architektur“, sagt Hanna, denn es geht darin nicht nur um Architektur, sondern auch um soziale und ökonomische Aspekte, die mit der Gestaltung von Städten einhergehen. „Es geht um Fragen wie: Welchen Einfluss hat Architektur auf das öffentliche Zusammenleben, auf Gemeinschaft? Welche Art der Architektur fördert eine Beteiligung der Einwohner?“ Fragen, die besonders relevant sind, wenn ein Großteil der Infrastruktur und der Häuser des Landes zerstört sind und wieder aufgebaut werden müssen.
Hanna schrieb seine Doktorarbeit über Marota City, einen Stadtteil von Damaskus, den das Assad-Regime komplett neu aufbauen wollte. 80 Wolkenkratzer und eine prestigeträchtige Innenstadt sollten entstehen, wo Menschen seit Generationen leben, für ihre Häuser und Grundstücke allerdings keine offiziellen Papiere vorweisen können. Ein typisches Problem in Syrien, genannt „informal settlement“. Das versuchte das Assad-Regime auszunutzen, sagt Hanna: „Eigentlich kaschierte dieses angeblich zukunftsorientierte Projekt, dass die Menschen enteignet werden sollten – und weil sie keine offiziellen Dokumente zu ihren Häusern haben, war es für sie schwer, sich zu wehren.“ Hanna sah in den Plänen zu Marota City eine Agenda, nach der das Assad-Regime auch andere Gebiete neu aufbauen wollte. Nämlich nicht im Sinne der Menschen, die dort leben. Sondern nach pompösen Plänen, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit reproduzieren. Die sind nun nicht mehr aktuell. Das neue Regime hat sie auf Eis gelegt und gibt an, die Rechte der Menschen zu achten und sich gegebenenfalls um eine faire Kompensation zu kümmern.
Menschen über Stadtplanung aufklären
„Wir haben damals realisiert, dass die Menschen in Syrien diese unfaire Masche des alten Regimes nicht durchschauen konnten – sie wussten nichts darüber, bekamen keine unabhängigen oder niedrigschwelligen Informationen“, sagt Hanna. Harastani und er nahmen sich vor, die Menschen aufzuklären. Aus dieser Idee entstand 2016 Syrbanism.
Mit Infografiken und Videos auf Social Media übersetzen die beiden die komplizierten, technischen Gesetze und Regulierungen für die Menschen in verständliche Sprache. „Das war der einzige Output, den wir zur Verfügung hatten, um die syrische Bevölkerung zu erreichen“, sagt Hanna. Schnell hatte eines ihrer Videos 20.000 Likes – ein erster, unerwarteter Erfolg. Sie produzierten mehr Videos. Sie organisierten Workshops, Vorträge, Netzwerk-Events.
Vom Feierabendprojekt zur NGO
Syrbanism war zunächst eine ehrenamtliche Nebenbeschäftigung, der Hanna und Harastani am Wochenende nachgingen. Beide hatten schließlich Vollzeitjobs. Doch nachdem Syrbanism 2019 für den Middle Eastern Architectural Personality of the Year Award nominiert worden war, kam die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit auf sie zu und bot eine Zusammenarbeit an. Syrbanism stellte sich neu auf und wurde zur NGO.
Mittlerweile können Hanna und Harastani von ihrer Arbeit für Syrbanism leben und werden von verschiedenen Stiftungen und Organisationen unterstützt, unter anderem von der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung und der International Organisation for Migration. Das Kernteam besteht aus fünf Personen, projektbezogen stoßen zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu.
Nach dem Sturz Assads ein neues Syrien gestalten
Seit dem Sturz des Regimes habe eine neue Ära für Syrbanism begonnen, sagt Hanna: „Jetzt ist die Zeit, all unsere Vorarbeit umzuwandeln in die Praxis.“ Sie planen öffentliche Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen vor Ort, wollen Netzwerke aufbauen.
Bei seinem Besuch im Januar 2025 in Damaskus traf Hanna auch Svenja Schulze, die Entwicklungsministerin der damaligen Bundesregierung. Er zeigte ihr zerstörte Nachbarschaften, erzählte ihr von der Geschichte und einem möglichen Wiederaufbau im Sinne der Menschen. Für den Besuch hatte Hanna mit Syrbanism auch eine öffentliche Veranstaltung organisiert, bei der Fachleute aus Syrien und der Diaspora zusammenkamen, um über Wiederaufbau, Beteiligung und Wohnen zu sprechen. Auf der Bühne saßen Rechtsanwälte, Ökonomen und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen.
Bei dem Event hatten sie einen Raum gebucht, in den 100 Personen passen. „Wir haben nicht erwartet, dass mehr kommen würden“, sagt Hanna. Als sich 200 Menschen dicht an dicht drängten, mussten sie Freunde bitten, weitere Interessierte abzuweisen. Der Wunsch, zu diskutieren und gemeinsam über die Zukunft Syriens zu sprechen, sei riesig gewesen, sagt Hanna. „Diese Veranstaltung hat mir so viel Hoffnung für Syrien gegeben – das Gefühl kannte ich nicht mehr, nach all den Jahren der Zerstörung.“