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Geschichten im Fluss

Die großen, Grenzen überwindenden Ströme erzählen von Vergangenheit und Zukunft in Europa.

乌韦·拉达, 13.08.2012
© Rabsch/laif

György Konrád, der große ungarische Essayist, hat einmal gestanden, dass er in Budapest am liebsten auf die Donau schaue. Ein wenig spiele dabei auch das Fernweh eine Rolle. „Seevölker sind immer weltoffen, wir aber, Bayern, Österreicher, Ungarn und Serben, haben kein Meer“, bedauerte Konrád. „Für uns ist die Donau die Verheißung des Meeres. Über sie können wir zu fernen Gestaden gelangen; sie durchquert uns und löst unser Eingesperrtsein auf.“

Der Fluss als Fenster in die Ferne. Das ist der optimistische Blick auf die Donau, den Konrád wieder wagen will. Der andere, der pessimistische, war vor nicht allzu langer Zeit traurige Realität. „Das erste Opfer des Kriegs ist die Brücke“, weiß auch Konrád. Doch der Balkankrieg ist Geschichte, und vor der Donau stehen die Aufgaben der Zukunft. Nicht mehr länger teilen soll sie, sondern Teil einer neuen europäischen Zusammenarbeit werden. Für Konrád eine Aufgabe, in deren Mittelpunkt ganz selbstverständlich ein Strom steht: „Wer den Fluss achtet, der achtet auch seinen Nächsten.“

Es ist wahrlich nicht wenig, was man den Flüssen heute aufbürdet. Nicht nur an der Donau, auch an Rhein, Mosel, Elbe und Oder sollen sie Völker verbinden, die Grenzen – und nationalen Ansprüche – der Vergangenheit vergessen machen, alte Kulturlandschaften aufschließen, den Tourismus ankurbeln. In den unübersichtlichen Zeiten von Globalisierung und Bindestrich-Identitäten bieten die Flüsse offenbar jenes Maß an Orientierung, das im Alltag verloren gegangen ist. Flüsse haben einen Anfang und ein Ende, wer sich an die Uferwege hält, kann nicht auf Abwege geraten. Die Wege, die wir befahren, sind älter als wir selbst, schließlich hat sich der Fluss seinen Lauf schon vor Tausenden von Jahren gebahnt. Nicht zuletzt bieten Flüsse auch jenen Moment des Innehaltens, den wir sonst so sehr vermissen: Wir schauen zurück auf das, was war, und voller Hoffnung und mit ein bisschen Ehrfurcht blicken wir auf das, was uns noch bevorsteht. Reisen an Flüssen ist ein besonderes Erlebnis von Raum und Zeit.

Was für ein Paradigmenwechsel. Es ist noch keine 30 Jahre her, da waren die Flüsse vor allem eines: Wasserstraßen und Abflussrinnen. Mit der Industrialisierung der Produktion hatte auch die Industrialisierung der Flüsse begonnen. Neue Häfen entstanden, Städte und Stadtbewohner wandten sich von den Flussufern ab. Nur ab und an, wenn sie über die Ufer traten, riefen sich die Flüsse wieder ins Gedächtnis. Der Rhein als Wasserautobahn, die Unterelbe, die Verlängerung der Nordsee bis Hamburg, BASF und Höchst im Rhein-Main-Gebiet: Von den Kulturlandschaften, die die Flüsse einst geschaffen hatten, war vor allem in den Ballungsgebieten nicht viel übrig geblieben.

Und plötzlich das: Brachliegende Industrieflächen erwachen als Kulturzentren zu neuem Leben, Uferlagen werden zu Naherholungsgebieten, am Wasser entstehen neue, städtische Wohngebiete. Überall wenden sich Städte und Menschen wieder ihren Flüssen zu. Begonnen hat die Wiederentdeckung der Flusslandschaften in Frankfurt, wo das Mainufer mit dem „Museumsufer“ als Kulturmeile neu entdeckt wurde. In Hamburg entsteht mit der Hafencity ein neuer Stadtteil an der Elbe, in Düsseldorf verneigt sich der Medienhafen vor dem Rhein, Ulm rückt wieder an die Donau heran, an der Oder verbinden Promenadenwege die beiden Grenzstädte Frank­furt und Słubice. Das neue Interesse an den Flüssen bringt auch neue Bilder hervor. Nicht mehr nationale Monumente wie das Deutsche Eck dominieren die Ufer der Flüsse, sondern das heitere Flanieren. Die Wiederentdeckung der Flüsse ist auch eine Geschichte ihrer Zivilisierung.

Deutschlands grenzüberschreitende Flüsse haben ihre eigene Geschichte. Mit Rhein und Oder, Mosel und Donau nähern wir uns Deutschlands Geschichte von außen, sehen sie mit den Augen der anderen, treten in einen Dialog. Gleiches gilt für Frankreich, Polen, Österreich. Auch deshalb sind die großen, Grenzen überwindenden Ströme die besten Botschafter Europas. Und sie sind, das wird vor allem György Konrád, den ungarischen und europäischen Essayisten, freuen, ein Gegengift gegen die zunehmende Rena­tionalisierung der Erinnerung in Europa.

 

Mehr über Flüsse als europäische Erinnerungsorte:

www.bpb.de/geschichteimfluss