„Deutschland, mein zweites Zuhause“
Deutschland entdecken und liebgewinnen: Drei Chinesinnen berichten von ihrem Austausch-Aufenthalt und wovon sie überrascht waren.
Wenyan Shan, 20 Jahre: „Ehrlichkeit schafft Vertrauen“
„Ich stamme aus Guangzhou, einer der größten Metropolen Chinas. Über die Organisation YFU (Youth For Understanding) habe ich das Schuljahr 2018/2019 als Austauschschülerin in der deutschen Kleinstadt Marsberg verbracht. In dieser Zeit ist mir bewusst geworden, wie verschieden die deutsche und die chinesische Kultur sind. Die Deutschen gehen beispielsweise sehr offen und direkt mit ihren Gefühlen und Gedanken um und können Konflikte damit manchmal einfacher lösen. Ehrlichkeit ist meiner Ansicht nach eine gute Verhaltensweise, die Vertrauen schafft. Gleichzeitig sehe ich bei Streitigkeiten mit meinen deutschen Freundinnen und Freunden die Gefahr von Missverständnissen, da ich meine Emotionen nicht im gleichen Maße zeige.
Der respektvolle und liebevolle Umgang in meiner Gastfamilie hat mir sehr geholfen, kleine Startschwierigkeiten zu überwinden. Meine Gastmutter hatte immer ein offenes Ohr für mich, ließ mir aber auch genügend Raum, wenn ich zunächst nicht über Probleme sprechen wollte. Deutsch hatte ich bereits an meiner Schule in China als zweite Fremdsprache gelernt: Mein Onkel ist Arzt und hat in Deutschland studiert. Seine positiven Erinnerungen haben mich sicherlich beeinflusst, ich selbst interessiere mich vor allem für die deutsche Geschichte und den deutschen Fußball.
In meiner Zeit in Marsberg habe ich auch einen Einblick in christliche Traditionen gewonnen. Für meine Gastfamilie gehörten katholische Rituale, Feiertage und Feste zum festen Bestandteil des Alltags. Da ich selbst nicht religiös bin, war das für mich eine außergewöhnliche Erfahrung.
Momentan studiere ich in Peking Umweltwirtschaft und hoffe darauf, eine meiner Gastschwestern bald wiederzusehen. Sie absolviert ein Auslandssemester hier in der Nähe und möchte mich bald besuchen. Darauf freue ich mich schon!“
Yiqiao Liu, 16 Jahre: „Ich wollte mir selbst ein Bild machen“
„Ich bin 16 Jahre alt und lebe in einem Internat in Suzhou. Ich interessiere mich schon lange für Deutschland, da meine Mutter seit Jahren für ein deutsches Unternehmen arbeitet. Es hat meinen Aufenthalt in Deutschland über die Jugendaustauschorganisation AFS mit einem Stipendium unterstützt. Diese Chance wollte ich nutzen, um mir selbst ein Bild vom deutschen Alltag, von der Kultur und Lebensweise zu machen und damit Vorurteile zu hinterfragen. Meine Eltern waren erst etwas beunruhigt, mich für sechs Monate allein in ein fremdes Land reisen zu lassen, da ich kein Deutsch spreche. Schließlich haben sie mich aber unterstützt und in dem Schüleraustausch eine wertvolle Chance gesehen, dass ich mich weiterentwickeln und mich selbst besser kennenlernen kann.
Im Dezember 2021 bin ich allein nach Deutschland geflogen. Bei meiner Gastfamilie in Mainz durfte ich zum ersten Mal Weihnachten feiern – ein großartiges Erlebnis. Meine Gastmutter hatte viele Geschenke für mich gekauft, worüber ich mich sehr gefreut habe. Die ganze Familie war sehr herzlich und offen und auch die Klassenkameradinnen und -kameraden meiner Gastschwester haben sich in der Schule um mich gekümmert. All das hatte ich so nicht erwartet. In China denken wir, die Deutschen wären reserviert und weniger hilfsbereit. Auch der Schulalltag hat mich überrascht. Anders als in meinem Internat war es einfach, mit den Lehrerinnen und Lehrern ins Gespräch zu kommen. Außerdem hatte ich viel mehr Freizeit als in China, wo mein Unterricht morgens um halb sieben Uhr startet und abends um zehn endet.
Während einer Klassenfahrt sind wir nach München gefahren. Hier haben wir uns unter anderem das Olympia-Stadion und die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau angeschaut. Der Besuch hat mich einerseits traurig gemacht, andererseits habe ich bemerkt, dass viele Deutsche die Geschichte ernst nehmen und es heute besser machen wollen. Insgesamt habe ich das Leben in Deutschland als sehr friedlich empfunden. Ich habe viel Zeit mit meiner Gastmutter verbracht und beispielsweise mit ihr zusammen den Wocheneinkauf erledigt. Wir sind weiterhin miteinander in Kontakt und schreiben uns jede Woche eine E-Mail. Ich möchte in Großbritannien studieren und habe mir vorgenommen, dann auch noch einmal nach Deutschland zu kommen. Ich liebe die Landschaft und auch die mittelalterliche Architektur wie zum Beispiel in Mainz.“
Xuan Xie, 20 Jahre: „Deutschland ist zu meinem zweiten Zuhause geworden“
„Deutschland ist für mich zu einem zweiten Zuhause geworden und ich genieße es, inzwischen wieder in Berlin zu wohnen. Schon als kleines Kind hatte ich vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr mit meinen Eltern hier gelebt. Geboren und bis zur achten Klasse zur Schule gegangen bin ich in Guangzhou in der Provinz Guangdong. Dort habe ich ein Internat besucht, das mehrere Fremdsprachen anbietet, und Deutsch als zweite Fremdsprache gewählt, um meine Deutschkenntnisse aufzufrischen.
Im Sommer 2014 organisierte mein Internat für die gesamte Klasse einen zweiwöchigen Schüleraustausch nach Frankfurt am Main und da wollte ich natürlich mit dabei sein. In der ersten Woche habe ich mit meiner deutschen Gastschwester ein Gymnasium besucht. Neu war für mich, dass auch die mündliche Mitarbeit für die Gesamtnote zählt: In chinesischen Schulen muss man sich nicht am Unterricht beteiligen, dafür sind die Klausuren und auch die naturwissenschaftlichen Fächer viel anspruchsvoller. In der zweiten Woche habe ich gemeinsam mit meinen chinesischen Schulkameradinnen und -kameraden Deutschland erkundet. Besonders gut in Erinnerung geblieben sind mir Schloss Neuschwanstein und die Reise nach Köln.
Wenige Monate nach dem Schüleraustausch sind meine Eltern aus beruflichen Gründen mit mir nach Deutschland gezogen. Ich habe eine deutsche Schule besucht und einige Zeit gebraucht, um mich einzuleben. Als meine Eltern ein Jahr vor meinem Abitur wieder nach China zurückkehren mussten, war für mich klar: Ich bleibe in Deutschland und beende hier die Schule. Aktuell studiere ich Wirtschaftsmathematik an der TU Berlin und werde auch nach meinem Studium zunächst hierbleiben. Ich schätze das politische Engagement der Deutschen und deren Interesse an sozialer Gerechtigkeit – das verbessert auch mein Leben als internationale Studentin. Zudem sind die Lebenshaltungskosten meiner Ansicht nach in Ordnung und ich fühle mich in Berlin sicher und gut aufgehoben. Ich schätze das kulturelle Angebot der deutschen Hauptstadt und finde es großartig, wie umweltbewusst Deutschland mittlerweile ist.“