„Jetzt müssen wir genau hinsehen“
Warum in der Corona-Pandemie die Menschenrechte besonders gefährdet sind, erklärt Bärbel Kofler, Beauftragte der Bundesregierung.
Frau Kofler, Ihnen war sehr wichtig, dass das Thema Menschenrechte ein Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wurde. Welche Aspekte sind besonders drängend?
In der aktuellen Lage sind vielerorts Menschenrechte gefährdet. Besonders jetzt müssen wir genau hinsehen und uns gemeinsam mit anderen EU-Staaten für eine ambitionierte europäische Menschenrechtspolitik einsetzen. Auch in einigen EU-Mitgliedstaaten erleben wir Angriffe auf menschenrechtliche und rechtsstaatliche Grundsätze, etwa in Ungarn und Polen. Die EU ist gefordert, die Verletzung ihrer Grundwerte, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit nicht zuzulassen. Auch das Vorankommen beim Menschenrechtssanktionsmechanismus ist drängend. Er ermöglicht eine gezielte Ahndung von Menschenrechtsverletzungen und gibt der EU-Menschenrechtspolitik ein starkes Instrument an die Hand.
Wird aus der Corona-Pandemie auch eine Krise für die Menschenrechte?
Leider verletzen während der Corona-Pandemie viele Staaten die Grundrechte. Die Sorge ist berechtigt, dass die Einschränkungen nach der Pandemie nicht überall wieder aufgehoben werden, besonders in Ländern, in denen die Menschenrechtslage schon vor Corona bedenklich war. Bei allen Krisenmaßnahmen muss immer überprüft werden, ob sie angemessen sind und ob die drei Grundpfeiler der Menschenrechte – Universalität, Unveräußerlichkeit und Unteilbarkeit – weiter unbestritten sind.
Die Debatte um ein Lieferkettengesetz nimmt in Deutschland und auch auf europäischer Ebene Gestalt an. Warum ist ein solches Gesetz so wichtig?
Der Großteil deutscher Unternehmen kommt bisher seinen unternehmerischen Sorgfaltspflichten nicht nach. Das ist das Ergebnis zweier Unternehmensbefragungen der Bundesregierung. Nur ein Lieferkettengesetz kann nachhaltig dafür sorgen, dass Menschenrechte und faire Arbeitsbedingungen in der gesamten Produktion gewährleistet sind, denn Menschenrechte sind kein Luxus. Auch auf Seiten der Unternehmen steigt die Zahl derer, die sich für gesetzliche Regelungen aussprechen. Diese sollen für alle gelten und nicht denjenigen Nachteile bringen, die menschenrechtliche Sorgfaltspflichten bereits umsetzen. Im Sinne der Chancengleichheit spielt auch das Vorankommen auf EU-Ebene eine Rolle. Wir sollten uns daher für zwei Stränge einsetzen: ein Lieferkettengesetz auf nationaler Ebene und eine Gesetzesinitiative auf EU-Ebene.
Sie haben Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgefordert, die Ratspräsidentschaft für Gespräche mit China über Hongkong zu nutzen. Was kann Deutschland hier tun?
Hier geht es um die Grundsätze von Demokratie und Menschenrechte, die aktuell stark bedroht sind. Das neue Sicherheitsgesetz höhlt die Autonomie Hongkongs und das Prinzip ‚Ein Land, zwei Systeme’ weiter aus. Die Menschenrechtslage in Hongkong und in China darf nicht hinter wirtschaftlichen Abwägungen und Interessen zurückbleiben und muss weiterhin hochrangig angesprochen werden. Deutsch-Chinesische und Europäisch-Chinesische Dialogformate müssen genutzt werden, um diese Themen zu adressieren.
Im Juni 2020 hat das Auswärtige Amt mit dem Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) ein Programm ins Leben gerufen, das Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten helfen soll. Warum ist die Elisabeth-Selbert-Initiative so wichtig?
Wir stellen seit Jahren fest, dass der Handlungsspielraum von Zivilgesellschaft in vielen Ländern immer weiter eingeschränkt wird. Leider verstärkt die Corona-Pandemie diese Tendenz. Mit der Elisabeth-Selbert-Initiative wollen wir akut bedrohte Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger unterstützen. Ihnen soll vorübergehender Schutz gewährt werden, entweder in ihrer Heimat oder in Deutschland. Denn wir wollen Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger gerade jetzt nicht alleine lassen.
Bärbel Kofler ist seit dem 1. März 2016 Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe.
Interview: Sarah Kanning
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