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Alles im Fluss – Die Elbe, Strom der Einheit

Wie hat sich das Leben an der Elbe seit der Deutschen Einheit verändert? Eine Reise entlang der früheren Grenze.

Helen Sibum, 17.06.2015

Flüsse gelten als Nebendarsteller, als Szenerie für das, was an ihren Ufern geschieht. Dass ihnen diese Rolle nicht gerecht wird, hat spätestens Mark Twain bewiesen. Bei ihm ist der Mississippi der Geschichtenerzähler, der Motor aller Entwicklung, der „grand old river“. Größenmäßig kann die Elbe mit ihren 1094 Kilometern Länge von der Quelle im tschechischen Riesengebirge bis zur Mündung in die Nordsee da natürlich nicht mithalten. Und doch hat auch sie immer wieder eine Hauptrolle gespielt. Sie hat Städten erheblichen Wohlstand gebracht, sie hat die Reformation aus Wittenberg in die Welt getragen und mit ihrem Hochwasser vielleicht sogar eine Bundestagswahl entschieden. Vor allem aber: Sie war jahrelang Teil der deutsch-deutschen Grenze.

„Ein Fluss ist ein Beweger von Gütern und Gedanken“, sagt Ludwig Güttler. Sein Büro in der Dresdner Altstadt ist nur wenige Schritte von der Elbe entfernt. Von hier aus leitet er die Gesellschaft zur Förderung der Frauenkirche, die ebenfalls ganz in der Nähe liegt. Ihr Standort sei kein Zufall, findet Güttler – die Elbe weise der Kirche ihren Platz zu. Schon immer hätten die Menschen auf der leichten Erhebung nahe dem Wasser besondere Gebäude errichtet. „Es ist ein Kraftort.“ Ein Kraftort allerdings, der nach den Luftangriffen auf Dresden Ende des Zweiten Weltkriegs jahrzehntelang eine klaffende Wunde war. Güttler, in den 1970er Jahren Trompeter bei den Dresdner Philharmonikern, kam auf dem Weg zur Probe ständig an dem Trümmerberg vorbei. Er begann, für den Wiederaufbau zu werben, doch in der DDR war der Plan nicht umsetzbar. „Als die Wende kam, wussten wir: jetzt oder nie.“

Es sollten noch viele Jahre vergehen bis zur Weihe der „neuen“ Frauenkirche 2005. Heute ist sie wieder zentraler Teil des Altstadtensembles. Wenn Güttler aus dem Fenster blickt, sieht er Besucher aus aller Welt auf das Gebäude zuströmen, das wie kein zweites in Deutschland für den erfolgreichen Wiederaufbau und das Überwinden von Krieg und Zerstörung steht.

Nicht alle Geschichten an der Elbe gehen so gut aus wie die des kulturellen Erbes in Dresden. Vor allem die Wirtschaft am östlichen Ufer hatte es schwer, im vereinten Deutschland Fuß zu fassen. Zu weit waren die Unternehmen im Westen technisch vorausgeeilt, zu wenig war man darauf vorbereitet, auf einem offenen, globalisierten Markt zu bestehen. Nur einzelne große Betriebe überlebten. Einer davon liegt rund 30 Kilometer flussabwärts: die Staatliche Porzellan-Manufaktur Meissen.

 

Tradition wird großgeschrieben in dem 1710 gegründeten Unternehmen. Geschäftsführer Tillmann Blaschke serviert Gäs­ten sogar das Mineralwasser in Porzellanbechern. Die Tradition war es auch, die Meissen durch die Wendejahre getragen habe, meint Blaschke. „Weil es um Kunsthandwerk geht, gab es das krasse Missverhältnis in der Produktivität nicht, das zwischen vielen Firmen in Ost und West existierte.“

Eine zweite Antwort auf die Frage, was Meissen von anderen DDR-Traditionsbetrieben unterschied, ist eng mit dem Werdegang von Liane Werner verknüpft. Die heutige Vertriebsleiterin kam 1987 zur Manufaktur, da hatte sie gerade ihr Studium an der Hochschule für Ökonomie in Ost-Berlin abgeschlossen – der einzigen Hochschule in der DDR, an der man Außenhandel studieren konnte. Das Fach habe sie gewählt, „weil man dann reisen durfte“. Ihr späterer Arbeitgeber war für die DDR ein Devisenbringer. Als eines von wenigen Unternehmen durfte Meissen deshalb weitgehend selbstständig internationale Handelsbeziehungen unterhalten. Für den Schritt in die freie Wirtschaft war man 1990 so etwas besser gerüstet als andere. „Für uns hat sich gar nicht viel geändert“, sagt Werner.

Sanft verliefen die vergangenen 25 Jahre für die Manufaktur, die dem Land Sachsen gehört, trotzdem nicht. „Die deutsche Tisch- und Tafelkultur hat sich gewandelt“, sagt Geschäftsführer Blaschke. Das Porzellanservice für Festtage gehört heute nicht mehr wie selbstverständlich in jedes Haus. Meissen hat deshalb sein Angebot erweitert, verkauft auch Mode, Schmuck und Wohnaccessoires und will in den wachsenden Märkten der Welt noch bekannter werden. Erst im Mai 2015 hat Blaschke in Schanghai einen neuen „Flagship-Store“ eröffnet.

 

Von Asien zurück an die Elbe, weiter nach Torgau. Dort entstand 1945 das berühmte Foto sowjetischer und US-amerikanischer Soldaten, die sich auf einer zerstörten Elbbrücke die Hände reichen. Das Friedensmoment, das der Fotograf damals einfing, wirkte jedoch kaum nach. Mit Gründung der DDR 1949 wurde die Elbe zur Staatsgrenze. Nachdem 1961 die Berliner Mauer gebaut worden war, entwickelte sich auch der Fluss zum Todesstreifen. Der Begriff „Mauertote“ lässt fast vergessen, dass hier ebenfalls Flüchtlinge starben – beim Versuch, die Elbe zu durchschwimmen oder die Grenzanlagen zu überwinden. „94 Kilometer lang war die Elbgrenze von Lütkenwisch/Schnackenburg bis Boizenburg/Lauenburg – und ebenso lang war der Metallgitterzaun, der auf DDR-Seite im Vordeichland errichtet wurde“, schreibt Uwe Rada in seinem Buch „Die Elbe“. „Am rechten Ufer konnten die Menschen den Strom hören, wenn er Wellen schlug, sehen konnten sie ihn nicht mehr.“

In Wittenberg, bei Flusskilometer 214, erinnert die Ausstellung im „Haus der Geschichte“ eher an den Alltag in der DDR – Trabi und Sandmännchen inklusive. So viel Ostalgie muss offenbar sein. Museumsbesucher sind rar an diesem Morgen, überhaupt ist es ruhig in der Stadt. Als tanke sie Kraft für das große Jubiläum, das 2017 ansteht. 500 Jahre ist es dann her, dass Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche schlug. Bis auf das geschichtsträchtige Portal ist die Kirche mit Planen verhüllt, sie wird saniert. Am Turm hängt ein Plakat: „Wir bewahren ein Weltkulturerbe – bewahren Sie sich ihre Neugier.“

Also weiter entlang am Fluss, auf dem an diesem sonnigen Tag einige Paddler unterwegs sind. Die Elbe als Naherholungsgebiet – das war lange undenkbar. Ihr Wasser galt als Giftbrühe, man hielt sich lieber fern. In Dessau gibt es Leute, die mehr darüber wissen. Hier sitzt seit 2005 das Umweltbundesamt. Mit seiner ungewöhnlichen Architektur und der bunten Fassade ist das „UBA“ nicht zu übersehen. Für die nachhaltige Bauweise mit Fotovoltaikanlage, Sonnenkollektoren und Erdwärme­tauscher gab es schon Preise. Drinnen wirkt es, als habe ein Erwachsener seinen Kindheitstraum von einem riesigen Baumhaus wahr gemacht. Durch einen Innengarten, über frei schwebende Treppen und Brücken gelangen die rund 900 Mitarbeiter in ihre Büros. An den Türen steht „Meeresschutz“ oder „Schutz der Arktis und Antarktis“. Jens Arle ist zuständig für Binnengewässer. Derzeit beschäftigt den Biologen die Frage, wie die Wasserrahmenrichtlinie der EU in Deutschland umgesetzt werden kann. Bis 2027 sollen alle Gewässer in einem „guten Zustand“ sein. Für die Elbe ist es dahin noch ein weiter Weg.

„Vor 1990 war die Elbe einer der am meisten belasteten Ströme Europas“, sagt Arle. Die Konzentration von Blei und Stickstoff etwa lag um ein Vielfaches höher als in anderen Flüssen. Fische starben, das Ökosystem kippte – die Elbe war so gut wie tot. Seitdem ist einiges passiert. „Viele schadstoffintensive Industriebetriebe der DDR haben dichtgemacht oder wenden modernere Technologien an. Umweltgesetze wurden eingeführt, und auch die Kläranlagen sind heute viel effizienter.“ Der Schadstoffgehalt sinkt, die Bewohner der Elbe kehren zurück: „Wanderfische wie Störe und Lachse waren lange verschwunden, jetzt laufen Wiederansiedlungsprogramme.“ Der Patient Elbe wurde erfolgreich reanimiert, topfit ist er noch nicht.

Dass die Dessauer den Fluss vor ihrer Haustür wieder gern haben, kann man jedes Jahr beim Elbebadefest beobachten. Biologe Arle ist für gewöhnlich nicht unter den Schwimmern, er erkundet lieber die Auen. Weil die Elbe sowohl aus Sicht der Bundesrepublik als auch der DDR Randgebiet war, blieb die Uferlandschaft relativ unangetastet. Das heutige „Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe“, von der UNESCO als schützenswert anerkannt, ist eng verflochten mit dem Gartenreich Dessau-Wörlitz. Wer durch die fürstlichen Parks des Welterbes wandelt, kommt vorbei an Schlössern, Seen – und Deichen. Der Umgang mit dem Hochwasser gehört zum Leben an der Elbe dazu. Für die Menschen hier gibt es deshalb Jahreszahlen mit besonderer Bedeutung: 2013 und 2002 sind solche Zahlen.

So wie viele Städte entlang der Elbe erlebte auch Magdeburg, 60 Kilometer flussabwärts von Dessau, im Juni 2013 die größte Hochwasserkatastrophe seiner Geschichte. Dabei hatte man schon die Flut vom August 2002 zum „Jahrhunderthochwasser“ erklärt. Damals reiste Bundeskanzler Gerhard Schröder in die betroffenen Gebiete, kurz darauf gewann die von ihm geführte Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Bundestagswahlen.

Die Hochwassergefahr ist nicht die einzige Herausforderung, die Magdeburg meistern muss. Viele Städte in der ehemaligen DDR haben mit einem erheblichen Bevölkerungsverlust zu kämpfen. Auch Magdeburg, das Otto der Große im Mittelalter zur Metropole machte, schrumpft. Seit 1990 ist die Einwohnerzahl von rund 290 000 auf 230 000 zurückgegangen. Im Jahr 2000 stand fast jede vierte Wohnung leer. Johannes Wöbse ist im Planungsamt zuständig für die Stadtentwicklung. Seine Kollegen und er haben keine geringere Aufgabe, als „Otto“, wie die örtlichen Marketingleute die Stadt nennen, einen passenden Anzug auf den Leib zu schneidern. Der jetzige schlottert ihm um die Glieder.

„Zu DDR-Zeiten sind hier riesige Wohngebiete entstanden“, sagt Wöbse, während er sein Auto durch Neu Olvenstedt lenkt. Der Stadtteil im Nordwesten Magdeburgs hat heute nur noch halb so viele Einwohner wie vor der Wiedervereinigung. Triste, massige Plattenbauten prägen das Bild. Neu Olvenstedt ist das Viertel mit der ältesten Bevölkerung – und den größten sozialen Problemen. Die Stadt und die Eigentümer der Wohnblöcke haben schon viel getan: Einige hat man abgerissen und Platz für Einfamilienhäuser geschaffen, andere mit Geldern aus dem Förderprogramm Stadtumbau Ost so verändert, dass sie kaum noch nach „Platte“ aussehen – die oberen Geschosse wurden abgetragen, die Fassaden umgestaltet. Trotzdem bleibt Neu Olvenstedt Magdeburgs Sorgenkind.

Ganz anders Buckau, direkt am Fluss. Das frühere Fischerdorf hat sich vom Industriequartier zum Szeneviertel gewandelt und ist heute der jüngste Stadtteil Magdeburgs. In die sanierten Altbauten ziehen Familien, einst leer stehende Ladenlokale werden zu Galerien oder Boutiquen, am Elbufer verwirklichen Hausbesitzer ihren Traum vom Wohnen am Wasser. „Buckau hat die Kurve gekriegt“, sagt Wöbse.

Wohnen am Wasser: In Hamburg, nur noch 100 Kilometer von der Elbmündung entfernt, ist das seit langem ein beliebtes 
Konzept. Im Jahr 2024 könnte es eine ganz neue Qualität bekommen. Die Freie und Hansestadt hat sich als Austragungsort der Olympischen Spiele beworben. Die Sportler – so die Pläne – sollen auf Kreuzfahrtschiffen untergebracht werden, die im Hafen ankern. Die Elbe als Teil des großen Fests der Völkerverständigung: Es wäre eine schöne Auszeichnung für diesen europäischen Fluss, der längst mitten in Deutschland liegt. ▪