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„Das Gefühl Europa“ – Interrail für alle 18-Jährigen

Kostenlos mit dem Zug durch Europa fahren und Begeisterung für die Europäische Idee wecken: das wollen zwei Berliner allen jungen Europäern ermöglichen. Nun könnte ihr Vorhaben Realität werden.

Hendrik Bensch, 13.12.2016
© privat - Martin Speer, Vincent-Immanuel Herr

Alles begann mit einer langen Zugreise und zahlreichen Begegnungen mit frustrierten Jugendlichen in Europa. Als die beiden Berliner Martin Speer und Vincent-Immanuel Herr sich 2014 auf den Weg durch die Länder Europas machten, wollten sie wissen: Was wünschen sich junge Menschen in Europa, was fürchten sie, welche Perspektiven sehen sie für sich? In 14 Ländern führten sie Interviews und stellten fest: Viele junge Europäer haben das Gefühl, dass man ihnen nicht richtig zuhört. Einen Einfluss auf politische Entscheidungen hätten sie nicht, klagten viele. „Wir haben dabei auch gemerkt, dass die europäische Idee für junge Leute oft wahnsinnig abstrakt ist“, erzählt Martin Speer. Bei ihm und seinem Mitreisenden Vincent-Immanuel Herr stieg die Begeisterung für Europa hingegen mit jedem Land, mit jeder Begegnung. Die Zugreise wurde für beide zum Aha-Erlebnis. „Vor der Reise war Europa für uns nur Theorie, danach war es ein Gefühl“, sagt Speer.

Europa langfristig positiv verändern

Mit diesem Gefühl der eigenen Begeisterung und dem Wissen um die Sorgen der Jugendlichen trafen sie den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse in Wien. Beim Schnitzelessen erzählten sie von ihren Erfahrungen und kamen dann auf eine Idee: Warum sollte nicht jeder 18-jährige Europäer zum Geburtstag ein kostenloses Interrail-Ticket bekommen – und so Europa selbst entdecken und Menschen in anderen Ländern kennenlernen? Das Konzept beim Interrail ist, mit einer Bahnfahrkarte unbegrenzt viele Zugfahrten innerhalb Europas in einem bestimmten Zeitraum unternehmen zu können. Die Idee für #FreeInterrail war geboren. „Es bietet die große Chance, eine gemeinsame europäische Identität innerhalb einer Generation zu stärken“, sagt Speer. „Das Projekt wirkt nicht einfach als Pflaster für kurzfristige Probleme. Es kann vielmehr Europa langfristig positiv verändern.“

Derzeit lernen jedes Jahr etwa 300.000 Europäer per Interrail Skandinavien oder den Mittelmeerraum, den Balkan oder das Baltikum kennen. In der Europäischen Union leben momentan etwa 5,5 Millionen 18-Jährige. So groß diese Zahl ist, so groß ist auch die Herausforderung, die mit der Idee #FreeInterrail verbunden ist. Denn wenn alle Europäer in diesem Alter ein Ticket bekommen sollen, belaufen sich die Kosten laut Schätzungen auf bis zu 1,8 Milliarden Euro jährlich. 

„Verständnis füreinander entwickeln“

Für Martin Speer ist der Betrag gut investiertes Geld. „Die europäische Idee droht gerade zu zerplatzen, weil die Bürger den Glauben daran verlieren, der Nationalismus wieder erstarkt und eher das Trennende betont wird“, sagt der 30-Jährige. Die Menschen in Europa müssten deshalb wieder mehr Verständnis füreinander entwickeln und erkennen, wie viele Gemeinsamkeiten es gebe. „FreeInterrail kann dabei helfen.“

Für ihr Projekt hat das Aktivisten-Duo Herr und Speer mittlerweile breite Unterstützung gewonnen: von begeisterten Eltern über Jugendorganisationen wie den Jungen Europäischen Föderalisten Europa bis hin zur schwedischen Außenministerin Margot Wallström. Im Europäischen Parlament haben sich die Parteien fraktionsübergreifend für das Projekt ausgesprochen. Und auch die Europäische Kommission unterstützt #FreeInterrail. „Der Kommission gefällt die Idee“, sagte EU-Kommissarin für Verkehr, Violeta Bulc. 

„Offen für frische Ideen“

Einen ersten konkreten Erfolg haben Martin Speer und Vincent-Immanuel Herr nun erzielt: Die EU-Kommission will ein Pilotprojekt für ein kostenloses Interrail-Ticket starten. Dafür ist bereits Geld im EU-Haushalt 2017 eingeplant. Wie es genau umgesetzt wird, ist noch unklar. Langfristig sollen auf jeden Fall alle profitieren, betont Martin Speer. „Es soll universell gelten und nicht ein Programm für eine Elite werden“, sagt der Berliner. 

Der 30-Jährige hofft, dass #FreeInterrail auch über das eigentliche Projekt hinaus einen Effekt haben wird. Viele Bürger sähen momentan politische Institutionen als sehr verschlossen an. „Unser Projekt kann deutlich machen, dass Parlamente und Institutionen offen für frische Ideen sind“, so Speer. Ihr Engagement zeige: Jeder Bürger kann etwas in der EU voranbringen.

Mit ihrer Idee könnten die beiden letztlich dazu beitragen, dass sich wieder mehr Menschen mit der EU identifizieren. Denn schon der frühere EU-Kommissionspräsident Jacques Delors wusste: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.“

www.herrundspeer.eu/freeinterrail