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Schutz für Verfolgte 
als Lehre der Geschichte

„Politisch Verfolgte genießen Asyl“, heißt es seit 1949 im Deutschen Grundgesetz. Heute sind zunehmend auch überstaatliche Regelungen gefragt.

Jost Müller-Neuhof, 30.12.2015

Der eine sucht Schutz, der andere kann ihn bieten. Oder fordert einer Schutz, und der andere muss ihn bieten? Ist Asyl Gnade? Oder Recht? Die steigende Zahl von Menschen, die auf der Flucht nach Europa sind, zwingt zur Klärung dieser Fragen. Das Thema lässt niemanden unberührt. Das Schicksal der Flüchtenden kann morgen schon jene ereilen, die sie heute noch bei sich aufnehmen.

Flucht und Vertreibung gehören zur Historie von Völkern und Staaten. Doch die Dialektik zwischen Flüchtling und Aufnahmestaat ist heute eine andere, schwierigere, als sie 
es historisch war. Asyl galt 
als Großzügigkeit souveräner Fürstenmacht. Wer es erhielt, hatte Sicherheit vor „Sylon“, was im Altgriechischen für Raub und Plünderung stand. Auch die Ägypter gewährten Zuflucht für mögliche Opfer, ebenso wie die Hethiter in Kleinasien. Im Alten Testament heißt es, Moses habe „Freistädte“ als Zufluchtsstätten wählen sollen. Und der Prophet Mohammed fand Zuflucht in Medina.

Tempel, Kirche, Kloster – diese Orte verweisen auf die religiösen Fundamente des Asyls als göttliche Gegenmacht zu irdischer Herrschaft. Zugleich bot das historische Asyl Zuflucht für Täter. Es bewahrte Verbrecher vor den Folgen der Blutrache und ermöglichte gerichtliche Verfahren – ein früher Schritt in die Neuzeit.

Statt von Raub und Plünderung würde man heute von Verfolgung und Bedrohung sprechen. Dennoch hat das Asyl auch seine kriminalpolitische Komponente behalten: Die zunehmende Mobilität der Gesellschaft durch Eisenbahn und Dampfschifffahrt ermöglichte es Straftätern, sich leichter ins Ausland abzusetzen. Wer aufgenommen und wer ausgeliefert werden sollte, das musste geregelt werden. Der transnationale Kontext, der die Asyldebatte heute bestimmt, der Bedarf nach zwischen- und überstaatlichen Lösungen – sie bestanden schon lange vor Gründung der Europäischen Union.

Dennoch musste erst das 20. Jahrhundert mit Völkermord, Terror der Nationalsozialisten und verheerenden Kriegen kommen, um die menschenrechtlichen und individualrechtlichen Seiten des Asyls zu entfalten. Die Globalkatastrophe des Zweiten Weltkriegs machte Millionen Menschen heimatlos. Die Tragik, dass viele Bedürftige keine Aufnahme fanden, spiegelt sich in der Entstehungsgeschichte des entsprechenden Grundgesetzartikels in Deutschland. Nie wieder sollten Asylsuchende auf einen Bittstellerstatus zurückgeworfen sein. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, heißt es deshalb seit 1949 im Grundgesetz. Um die Formulierung war lange gerungen worden. Müsse nicht genauer bestimmt werden, wer wirklich verfolgt sei?

Durchgesetzt hat sich eine liberale Posi­tion, wie sie vom SPD-Politiker Carlo Schmid vorgeschlagen worden war. Im Prinzip spielte sie auf überkommene Eigenschaften des Asyls an, auf Schutz als Akt staatlicher Generosität. Schmids Argumentation gegen den Hinweis auf Missbrauchsgefahren ist legendär geworden: Wer generös sein wolle, müsse riskieren, sich in der Person zu irren.

Das moderne, als Verfassungssatz weltweit seltene deutsche Grundrecht auf Asyl nimmt die Problematik des Irrtums damit von Anfang an in Kauf. Und weil es ein Recht auf Einreise und vorläufiges Bleiberecht in eine zunehmend sozialstaatlich ausgeformte Bundesrepublik versprach, wurden die Diskussionen mit steigenden Antragszahlen bei gleich­bleibenden Anerkennungsquoten in den 1970er- und 1980er-Jahren stärker. So fand sich 1993 im Bundestag die nötige Zweidrittelmehrheit, um das Grundgesetz zu ändern. Der Wortlaut wurde erhalten, doch mit dem Konzept der „sicheren Drittstaaten“ beschränkt: Wer aus Ländern einreise, in denen ihm faktisch keine Gefahr drohen könne, dürfe ohne Antragsprüfung zurückgewiesen werden.

Der sogenannte „Asylkompromiss“ steht bis heute in der Kritik. Nicht zuletzt, weil er mit den humanitären Ansprüchen an das Schutzrecht kollidiert. Auch kam die Frage zum Verhältnis von Asyl und dem unantastbaren Schutz der Menschenwürde auf, der durch Artikel 1 des Grundgesetzes garantiert wird. Das Bundesverfassungsgericht hat im Sinne des Parlaments entschieden und die Veränderungen für verfassungskonform erklärt. Das Asylgrundrecht sei zwar auch von Menschenwürdeaspekten geprägt, doch hindere das den Gesetzgeber nicht, es zu streichen, wenn er es wolle.

Die nationale Gestaltung des Asylrechts fügt sich ein in den völker- und europarechtlichen Überbau. Zentral ist die Genfer Flüchtlingskonvention mit ihrem Verbot, individuell und gezielt Verfolgte in Verfolgerstaaten zurückzuschicken. Die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen und die Europäische Menschenrechtskonvention wenden sich gegen Abschiebung in Staaten, in denen Folter droht. Vor allem aber ist es die EU, die mit dem Haager Programm von 2004 den Aufbau eines gemeinsamen Asylsystems vorantreibt. Kennzeichnend ist hier neben Einzelrichtlinien für Mindestnormen des Flüchtlingsschutzes bisher das Dublin-Verfahren, das sicherstellen soll, dass jeder Asylantrag inhaltlich nur von einem EU-Staat geprüft wird – von jenem Staat, in den der Flüchtling zuerst eingereist ist.

Es hat sich gezeigt, dass die gegenwärtigen Flüchtlings- und Migrationsströme das Dublin-Verfahren ins Wanken bringen. Zugleich bleiben die EU-Staaten verpflichtet, Schutz zu bieten, wenn Betroffenen in ihren Heimatländern Schaden droht. Europa, die Union der Freizügigkeit, muss sich nun einigen, wie großzügig es sein will. Und wo künftig seine Grenzen verlaufen sollen. Am Ende könnte eine Nivellierung des Schutz- und Leistungsumfangs für Asylbewerber stehen. Ob dafür ein neuer „Asylkompromiss“ nötig wird, der möglicherweise in die Verfassung eingreift, ist ungewiss. ▪