Wege in die Zukunft
Die Europäische Union sucht in schwierigen Zeiten nach Wegen aus der Krise und Antworten für seine Zukunft.
Seit einigen Jahren kämpft Europa gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise. Seit der Währungsunion ist Europa noch viel enger verwoben als je zuvor. Der Euro, die gemeinsame Währung in den 17 Ländern der Eurozone, fordert gemeinsame Leistungsfähigkeit und gemeinsame Stabilität. Deshalb erhalten auch innenpolitische Details europaweite Aufmerksamkeit: Kurzum: Der Kontinent sucht nach seiner Zukunft.
Dahinter steht ein Schlüsselphänomen, das die eigentliche Herausforderung – jenseits aller ökonomischen Statistiken – bedeutet: Bei aller tagespolitischen Detailkritik erkennen die Bürgerinnen und Bürger die Bedeutung der Einigung Europas im Grundsätzlichen – als Chance zu freiheitlicher Selbstbestimmung und weltpolitischer Mitverantwortung. Zugleich sagen aber mehr als 70 Prozent der Europäer: „Ich verstehe das alles nicht.“ Dieser Ausdruck der Orientierungslosigkeit ist das eigentliche Alarmsignal. Es gilt also konzeptionelle Ordnung auf der Baustelle Europa zu schaffen. Die 500 Millionen Menschen, die in der EU ihr Zusammenleben rechtsstaatlich, friedlich und demokratisch organisieren, sollten sich auf dem Kontinent beheimatet fühlen. Dazu bedarf es einer verständlichen strategischen Perspektive.
Es gibt dazu ein Beispiel, aus dem man Anregungen ableiten kann: Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre konnte man in Europa eine Stimmungslage beobachten, die der heutigen Atmosphäre sehr ähnlich war. Europa erschien mit seinen negativen Wirtschaftsdaten in einem unaufhaltsamen Niedergang. Damals gelang es Politikern wie François Mitterrand, Helmut Kohl und Jacques Delors den Kontinent mit der Vollendung des Binnenmarktes zu retten. Die Krise mutierte in eine Erfolgsgeschichte.
Wie lässt sich diese Erfahrung auf die Gegenwart übertragen? Zunächst gilt es Klarheit im Blick auf die Schwierigkeiten und Herausforderungen zu gewinnen. Etliche Mitgliedsstaaten der EU haben die haushaltspolitischen Rahmenbedingungen verkommen lassen – und die Union hatte keine Möglichkeit, dies wirkungsvoll zu verhindern. In der krisenhaften Drucksituation hat Europa dann Lernprozesse vollzogen und Schritt für Schritt Instrumente geschaffen und Maßnahmen ergriffen – vom Rettungsschirm über das sogenannte Europäische Semester bis hin zum Fiskalpakt. Und der Fiskalpakt ist nicht das Ende der Geschichte, sondern lediglich ein wichtiger Schritt auf einem langen historischen Weg.
Vor diesem Hintergrund braucht Europa neue Begründungskonstellationen. Manche politische Kulisse der Integration stammt noch aus den Gründerzeiten, als Antwort auf Krieg und Frieden zu geben war – oder dann, als die Einigung Europas Kernbestandteil des weltpolitischen Konflikts zwischen Ost und West war. Es bedarf jetzt der Verständigung auf einen neuen Begründungszusammenhang, um das Machtkonglomerat Europa zu verstehen. Schließlich hat es in den vergangenen Jahrzehnten einen immensen Machttransfer auf die europäische Ebene gegeben. Es gibt nur noch zwei Bereiche der Politik, in denen Europa nicht machtpolitisch involviert ist – die Finanzierung sozialer Sicherheitssysteme und die Kulturpolitik. Die 500 Millionen Menschen mit großem ökonomischen Potenzial und umfassender militärischer Ausstattung haben die EU in den Rang einer Weltmacht befördert. Umso dringlicher wird es, diese Weltmacht aus ihrer Orientierungslosigkeit zu befreien.
Dazu bedarf es jener neuen Begründungskonstellationen und jener präzisen Strategien. Nur so kann Europa eine zukunftsfähige Form finden. Die Alternativen lassen sich beobachten: In vielen Mitgliedsstaaten gibt es Fluchtbewegungen aus der Komplexität der Lage in die einfache Formel des populistischen Extremismus. Will man diese Herausforderung erfolgreich bestehen, sind drei strategische Probleme zu lösen:
- Die politische Führungsfrage ist bisher ungeklärt. Den Beobachtern bleiben die Spannungsverhältnisse zwischen dem Präsidenten des Europäischen Rates, dem Präsidenten des Ministerrates, dem Präsidenten der EU-Kommission, dem Vorsitzenden des Euro-Rates, den Sprechern des Europäischen Parlaments, den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten und je nach Aufgabe zusätzlich dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank und der Hohen Repräsentantin für Außen- und Sicherheitspolitik nicht verborgen. Aber wer hat für welche Aufgabe wirklich die Führungsverantwortung? Diese Frage kann gegenwärtig kaum jemand beantworten. Insofern gehört die EU zweifellos zu den höchst intransparenten Phänomenen, mit denen das politische Leben umzugehen hat. Intransparenz aber veranlasst Distanzierung und Flucht in Populismus. Daraus folgt also Priorität die Notwendigkeit, Transparenz zu schaffen.
- Europa hat dramatisch an Macht gewonnen – aber nicht an Zustimmung der Bürger. Der Euro-Rahmen hat über viele hunderte Milliarden zu entscheiden, aber Hintergründe, Interessen und Ziele bleiben unklar und unverstanden. Wer ist denn zu solch weitreichenden Entscheidungen überhaupt legitimiert? Die Legitimationsfrage rückt in das Zentrum der Aufmerksamkeit.
- Das aktuelle Dilemma wird damit evident: Der Bürger muss Europa als sein Europa erfahren können. Er muss es verstehen, er muss teilhaben können. Mehrere Entscheidungen wären dabei hilfreich: Zur institutionellen Fortentwicklung hat der Europäische Rat eine Reformkommission eingesetzt. Eine ähnliche Kommission sollte zum Thema Dezentralisierung und Rückabwicklung von Kompetenzen eingesetzt werden. Der klare Blick auf die Zuordnung von Kompetenzen sollte wiederhergestellt werden. Ebenso wichtig aber ist das Konzept, ein Europa nah an den Bürgerinnen und Bürgern zu schaffen, Europa als Ort der Partizipation zu kreieren – das wäre die Lösung. Teilhabe kann sich nicht erschöpfen in den Wahlen zum EU-Parlament und künftig vielleicht noch in der Direktwahl eines Präsidenten. Nein, auch die thematischen Details der strategischen Antworten müssen in einer Partizipationskultur erarbeitet werden. Diese Aufgabe rechtfertigt jeden Aufwand an Phantasie und Kreativität.
Europa braucht einen anspruchsvollen konzeptionellen Diskurs. Es braucht Schritte in eine reale europäische Öffentlichkeit – also die kulturelle Grundierung seiner politischen Ordnung. Wenn wir es sensibel und strategisch präzise angehen, dann können wir feststellen: Europa steht am Beginn einer neuen Epoche. ▪
Prof. Dr. Dr. h. c. Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München.