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Deutschlands Weg in die Demokratie

Vor 175 Jahren tagte die erste frei gewählte deutsche Volksvertretung in der Frankfurter Paulskirche. Ihre Verfassung ist eines der bedeutendsten Kapitel in der deutschen Demokratiegeschichte.

Uta Rasche, 12.05.2023
Frankfurter Paulskirche
Frankfurter Paulskirche © IStock

Es war eine beispiellose Revolutionswelle, die große Teile Europas im 19. Jahrhundert erfasste. Ausgehend von Frankreich traten die Menschen auch in den deutschen Staaten mit großer Vehemenz für Freiheit, Demokratie und nationale Selbstbestimmung ein. Die Landbevölkerung war unzufrieden und litt unter Armut. Viele wollten, dass die Freiheiten der Französischen Revolution auch in Deutschland gelten sollten. Zusammen mit Studenten und Professoren wünschten sich die Menschen, dass aus den vielen kleinen deutschen Staaten und Fürstentümern eine gemeinsame Nation werde.

Ein geeintes Staatswesen formen – so lautete deshalb ein wichtiges Ziel der Einberufung der Nationalversammlung, die ab dem 18. Mai 1848 als erste frei gewählte deutsche Volksvertretung in der Frankfurter Paulskirche tagte.

Die Nationalversammlung war das erste nationale Parlament in Deutschland. Die rund 600 Abgeordneten wollten eine Verfassung nach den Grundsätzen der Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit entwerfen. Ihr Ziel war ein föderaler Staat, der die Vielfalt der deutschen Regionen berücksichtigte.

175 Jahre Deutsche Revolution
© picture alliance/dpa

Fortschrittliche Verfassung mit Vorbildcharakter

Die Verfassung, die sie erarbeiteten, war eine der fortschrittlichsten der damaligen Zeit. Sie enthielt bereits Bürgerrechte und Grundfreiheiten, die heute, 175 Jahre später, für viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland selbstverständlich sind. Das Wichtigste: Die Parlamentarier wollten, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Sie schafften die Privilegien des Adels, die Leibeigenschaft und die Benachteiligung der Juden ab. Die „Gleichheit“ war allerdings lückenhaft: Denn beim Wahlrecht fanden die Abgeordneten es ganz normal, dass Frauen davon ausgeschlossen wurden. Wählen durften nur Männer, die älter als 25 Jahre und wirtschaftlich „selbständig“ waren – also keine Armenfürsorge erhielten. Wichtig waren ebenso die Presse- und Meinungsfreiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit von Forschung und Lehre sowie die Versammlungsfreiheit – denn im Vorfeld der Revolution hatten die Fürsten ihre Untertanen in dieser Hinsicht stark eingeschränkt. Die Abschaffung der Todesstrafe, rechtsstaatliche Prinzipien und die Unverletzlichkeit der Wohnung sollten Schutz vor Willkür der Obrigkeit bieten.

Die Nationalversammlung trat am 18. Mai 1848 zusammen und verabschiedete gut zehn Monate später die Verfassung für eine konstitutionelle Monarchie. Die radikalen Demokraten, die eine Republik befürworteten, waren in der Minderzahl. Mit Ausnahme Österreichs sollten alle Staaten des Deutschen Bundes dazugehören. Dem Reichstag, einem Zwei-Kammer-Parlament, sollten die Gesetzgebung, das Budgetrecht und die Kontrolle der Exekutive obliegen. Ein Kaiser sollte das Reichsoberhaupt sein, der Titel sollte vererbt werden.

Die Nationalversammlung setzte sich für mehr Bürgerrechte ein.
Die Nationalversammlung setzte sich für mehr Bürgerrechte ein. © picture alliance/dpa

Die Verfassung der Nationalversammlung scheiterte

Die Parlamentarier verbanden damit große Hoffnungen. Eine Abordnung von ihnen machte sich auf den Weg nach Berlin, um dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserwürde anzutragen. Doch der lehnte sie ab. Die Kaiserkrone hätte er gern genommen, aber nicht „aus Bürgerhand“. Er hatte sich, anders als die Parlamentarier, von der Idee des „Gottesgnadentums“ seiner Herrschaft noch nicht verabschiedet. Damit hatten die Abgeordneten nicht gerechnet.

Nach dem preußischen König weigerten sich nun auch andere Fürsten, die Verfassung zu unterschreiben. Preußen, Österreich und andere Staaten zogen ihre Abgeordneten aus Frankfurt ab. Die Nationalversammlung verlor schnell den Rückhalt in der Bevölkerung und löste sich auf – die gerade erst beschlossene Verfassung war schnell gescheitert. Die radikalen Demokraten wurden verfolgt und eingesperrt, viele flohen in die Vereinigten Staaten von Amerika.

Grundrechte im Grundgesetz verankert

Die Ideen der Nationalversammlung in der Paulskirche lebten dennoch weiter. Die Grundrechte aus der Paulskirchenverfassung waren das Vorbild für die Weimarer Reichsverfassung von 1919. Die Nationalsozialisten hebelten die Grundrechte allerdings aus, nachdem sie im Januar 1933 an die Macht gekommen waren. Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 verhafteten sie willkürlich Kommunisten, Sozialdemokraten und andere politische Gegner. Später entrechteten sie Juden und sämtliche Oppositionelle.

1949, nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden die Grundrechte der Paulskirchenverfassung fast wortgleich in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland (Grundgesetz) verankert. Gut 100 Jahre hat es also gebraucht, von 1848 bis 1949, bis die Grundrechte, die die Abgeordneten der Paulskirche aufgeschrieben hatten, in Deutschland auf Dauer realisiert wurden.

„Wiege der deutschen Demokratie“

Die Paulskirchenverfassung war für die Entwicklung der Demokratie in Deutschland so bedeutend, dass 1963 der damalige US-amerikanische Präsident John F. Kennedy bei einem Besuch in Frankfurt die Paulskirche „die Wiege der deutschen Demokratie“ nannte. Zwar war die Verfassung zunächst erfolglos. Ihr Grundrechtsteil ist trotzdem eine wichtige Leistung. Die dort ausgearbeiteten Bürgerrechte und Grundfreiheiten bilden bis heute die Basis vieler demokratischer Gesellschaften.