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„Religion ist nie der Grund für Konflikte“

Wäre die Welt ohne Religion friedlicher? Im Gegenteil, sagt Konfliktforscher Markus A. Weingardt, Religionsakteure könnten sogar besonders gut Frieden stiften.

Interview: Sarah Kanning , 14.08.2019
Religion und Konflikt: Markus Weingardt im Interview
© Florian Gaertner/photothek.net

Herr Weingardt, fast täglich lesen wir über Gewalt und sogar Kriege im Namen von Religion. Wäre die Welt ohne Religion friedlicher?
Nein, sicher nicht. Religion ist eigentlich nie der Grund für Konflikte. Sie wird vielmehr zu deren Begründung benutzt. Das gilt ähnlich für säkulare Ideologien wie Nationalismus oder Kommunismus. Man kann sogar mit Demokratie oder Freiheit Gewalt legitimieren. Mehr als 100 Millionen Menschen wurden im 20. Jahrhundert Opfer von säkular, nicht religiös begründeter Gewalt.

Und dennoch gilt Religion als Brandbeschleuniger. Was macht Religionen so anfällig für Gewalt?
In den zentralen Schriften aller Religionen finden sich Überlieferungen, in denen Gewalt in irgendeiner Weise positiv konnotiert – sei es, dass ein Gott Gewalt befürwortet oder sogar selbst Kriege führt. Auf diese Texte können politische oder religiöse Führer auch heute noch zurückgreifen, um Gewaltanwendung religiös zu rechtfertigen.

Die Politik hat endlich erkannt, dass religiöse Akteure als Unterstützer in ihrer Außenpolitik zu lange marginalisiert worden sind.
Markus A. Weingardt

Warum sind Religionen dann geeignet, Frieden zu stiften?
Weil in denselben Schriften auch das Gegenteil steht. Es wird berichtet, Gott habe Gewalt als Sünde abgelehnt, habe Frieden, Versöhnung und Gewaltlosigkeit gefordert. Diese Ambivalenz müssen wir aushalten. Wer nach einer Rechtfertigung von Gewalt sucht, kann sie in der Religion finden. Für die allermeisten Gläubigen sind allerdings die gewaltverneinenden Elemente ihrer religiösen Schriften die Richtschnur ihres – privaten und politischen – Handelns. Das sollten wir nicht vergessen.

Sie haben weltweit nach religiösen Akteuren gesucht, die Frieden stiften. Welche Beispiele haben Sie gefunden?
Es gibt Dutzende. In Mosambik vermittelte die katholische Laienbewegung Sant’Egidio 1992 einen umfassenden Friedensvertrag – im Zenit eines grausamen Bürgerkriegs, der Millionen Opfer gefordert hatte. Während des Genozids in Ruanda 1994 verweigerten sich die dortigen Muslime fast kollektiv der Gewalt und retteten viele tausend Verfolgte – oft unter Einsatz des eigenen Lebens. In Sierra Leone oder Bosnien-Herzegowina und etlichen anderen Ländern trugen nationale interreligiöse Räte in ganz unterschiedlicher Weise zur Überwindung von Gewalt bei – um nur wenige Fälle zu nennen.

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Gibt es auch in Deutschland Beispiele für das friedliche Wirken von Religionen?
Natürlich. Die deutsche Wiedervereinigung wäre ohne die evangelischen Kirchen in der DDR mit großer Wahrscheinlichkeit nicht so friedlich erreicht worden. Auch die Friedensbewegung wurde und wird von vielen Menschen getragen, die aus religiöser Überzeugung gegen Krieg oder die Stationierung von Atomwaffen protestieren. Das prägt eine Gesellschaft. Nicht zuletzt ist auch die Arbeit mit Geflüchteten eine Form von Friedensarbeit – oftmals ebenfalls aus religiöser Motivation heraus geleistet. Das trifft auch auf das Kirchenasyl zu.

Was macht Religionsvertreter so attraktiv als Friedensvermittler?
Sie genießen Vertrauen, ja sogar einen Vertrauensvorschuss. Religiöse Akteure gelten vielfach als uneigennützig; ihre Motivation ist nachvollziehbar. Sie werden nicht mit Korruption oder Vetternwirtschaft in Zusammenhang gebracht. Im Hinblick auf Fragen wie Schuld, Sünde oder Versöhnung gelten sie als kompetent. Sie sind beharrlich und verlässlich und verfügen häufig zudem über die nötigen materiellen und finanziellen Ressourcen. Und vor allem: Sie sind nicht gefährlich. Da sie nicht mit Druck und Drohung arbeiten, sind keine negativen Konsequenzen zu befürchten, wenn eine Vermittlungsinitiative scheitert. Dieser spezifisch religiöse Vertrauensvorschuss öffnet Türen und Handlungsspielräume, das ist eine enorme Chance – und Verantwortung.

Was bedeutet das für die Politik?
Sie hat endlich erkannt, dass religiöse Akteure als Unterstützer in ihrer Außenpolitik zu lange marginalisiert worden sind. Die Angst in den Köpfen, die aus dem Konfliktpotenzial der Religionen und der Berichterstattung darüber resultiert, ist noch groß. Die Politik sollte religiöse Friedensakteure identifizieren, sie unterstützen und in Friedensprozesse einbeziehen. Aber sie darf sie auch in die Pflicht nehmen, nach dem Motto: „Wenn ihr einen Friedensanspruch habt, dann zeigt es! Bringt euch ein, arbeitet mit uns zusammen.“ Politik, Nichtregierungsorganisationen und religiöse Akteure verfügen über unterschiedliche Möglichkeiten und Kompetenzen, die sich ergänzen können. Wenn alle konstruktiv zusammenarbeiten, kann und wird mehr Frieden auf der Welt entstehen.

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