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Frieden durch Religion?

Die Politik muss das Friedenspotenzial der Religionen besser nutzen. So kann es gelingen.

Markus A. Weingardt, 25.09.2017
Martin Luther King erhielt 1964 den Friedensnobelpreis.
Martin Luther King erhielt 1964 den Friedensnobelpreis. © dpa/epa/AFP

Der britische Erfolgsautor Ian McEwan träumt von einer Welt ohne Religion. Das, so McEwan, wäre dann „eine Welt voller Demut vor der Heiligkeit des Lebens“. Die Religionen hingegen stünden „im Zentrum der großen Konflikte unserer Zeit“, schrieb er in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Stimmt, sagt auch die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright in ihrem Buch „Der Mächtige und der Allmächtige“, Religionen seien schon immer (wenn auch nicht nur) ein „Quell von Hass und Konflikt“, gerade in der Politik. Sie will die Religionen aber nicht abschaffen, sondern schlägt vor, Theologen und andere Religionskundige als außenpolitische Berater einzusetzen.
 

Gewalt- und Friedenspotenziale

Intellektuelle und Politiker, Medien und Wissenschaft und natürlich ein Großteil der Menschen: Alle sind gebannt vom Gewalt- und Konfliktpotenzial der Religionen. Und täglich wird es von Presse, Funk und Fernsehen frei Haus geliefert: heiliger Krieg, fundamentalistischer Terror, Mord und Totschlag in religiöser Verkleidung rund um die Welt. Ohne Frage: Religion kann eine gefährliche und zerstörerische Waffe im Austragen von Konflikten sein. 

Worüber nicht in den Medien berichtet wird, ist ein religiöses Friedenspotenzial. Man hört, sieht und liest nichts. Gibt es das vielleicht gar nicht? Dabei bekennen sich doch Autoritäten und Gläubige aller Religionen zum Frieden. Sind dies bloße Lippenbekenntnisse? Wenn es aber ein solches Friedenspotenzial gibt, wie sieht es dann aus? Wie wirkt es sich aus? In guter Nachbarschaft oder indem man sich freundlich lächelnd aus dem Weg geht? Indem sich hochrangige Religionsvertreter vor laufenden Kameras der gegenseitigen Toleranz und Friedensliebe versichern? Oder hat der religiöse Friedensanspruch auch politische Relevanz, konkret und praktisch, in innergesellschaftlichen wie internationalen Konflikten, in Kriegen und Bürgerkriegen?

Prävention, Widerstand, Vermittlung, Versöhnung

Die Literatur, auch die wissenschaftliche, gibt darauf kaum eine Antwort. Publizistik und Friedensforschung sind weitgehend auf das destruktive Potenzial von Religion fokussiert. „When it bleeds, it leads“, wenn Blut fließt, dann ist das eine Meldung wert. Kaum einem kam es in den Sinn, auch nach einem konstruktiven Potenzial von Religionen Ausschau zu halten. Das ist umso erstaunlicher, als die berühmtesten Helden der Gewaltlosigkeit, weltweite Ikonen des Friedens – Mahatma Gandhi und Martin Luther King – zwar hochpolitische Akteure waren, aber zugleich tiefreligiöse Persönlichkeiten. Und beides, Religion und Friedenspolitik, gehörte für sie zwingend zusammen. Und es gibt zahllose Geschwister von Gandhi und King: religiöse Akteure, die in politischen Gewaltkonflikten signifikant und erfolgreich zur Deeskalation von Konflikten und zur Vermeidung von Gewalt beitrugen. Diese Beispiele sind nur wenige von vielen – von A wie Albanien über Birma, Kenia, Polen, Südafrika oder Uganda bis Z wie Zimbabwe –, in denen durch das Eingreifen religionsbasierter Akteure Konflikte eingedämmt wurden. Konflikte, in denen religiös motivierte Männer und Frauen Gewalt verhinderten oder verminderten, in denen sie zum Frieden und zur Versöhnung beitrugen. Natürlich waren sie nicht die einzigen Akteure und selten im Alleingang erfolgreich. Aber sie leisteten entscheidende Beiträge zur Deeskalation, die sonst niemand zu leisten imstande oder willens war. 

Wer Konflikte anheizen und Kriege führen will, braucht keine Religion zu ihrer Begründung.
Markus A. Weingardt, Friedens- und Konfliktforscher

Frieden ohne Religion? 

Sosehr es zutrifft, dass in der Geschichte unendlich viel Leid und Tod mit religiöser Begründung über die Menschen gebracht wurde und noch wird – so sehr stimmt auch, dass mit religiöser Begründung zugleich unendlich viel Hilfe geleistet und Frieden gestiftet und Gewalt verweigert wurde. Wäre die Welt also wirklich friedlicher ohne Religion? 

Mitnichten! Denn wer Konflikte anheizen und Kriege führen will, braucht keine Religion zu ihrer Begründung. Es genügen durchaus auch säkulare Weltanschauungen, etwa Nationalismus und Faschismus, Ethnizismus, Imperialismus oder Kommunismus. All diese „Ismen“ haben einen Hang zu Exklusivität, zur Ab- und Ausgrenzung; dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Konfrontation und schließlich gewaltsamen Aggression. Die überwäl­tigende Mehrheit der Millionen von Kriegstoten im 20. Jahrhundert waren Opfer säkularer Ideologien, nicht von religiös begründeter Gewalt. Und auch heute weist – entgegen einem verbreiteten Eindruck – nur ein kleiner Teil aktueller Gewaltkonflikte genuin religiöse Ursachen auf, wie etwa das Heidelberger Konfliktbarometer belegt. 

Frieden durch Religion!

Zugleich steht außer Zweifel, dass viele Konflikte und Kriege weitaus blutiger verlaufen wären ohne das Einwirken religiöser Friedensakteure. Neben deren Friedensanspruch und einer konsequent verwirklichten Friedensverantwortung zeichnet sie aus, dass sie bei den Konfliktparteien oft einen Vertrauensvorschuss genießen. Säkulare Kräfte – ob Politiker oder NROs – sind in der Regel erheblichem Misstrauen gegenüber ihren wahren, vielleicht versteckten Interessen ausgesetzt, vor allem wenn die Friedensakteure aus dem Ausland kommen oder von dort finanziert werden. Eine religiöse Motivation, Frieden zu stiften, weckt bei vielen hingegen Vertrauen. 

Dieses Vertrauen öffnet Türen und (Ver-)Handlungsspielräume, die säkularen Akteuren oft verschlossen bleiben. Dabei sind säkulare und religiöse Friedensakteure keinesfalls als Konkurrenten anzusehen, sondern als Kooperationspartner. Beide verfügen über Kompetenzen, die sich hervorragend ergänzen können. Doch leider werden religiös motivierte (potenzielle) Friedensakteure oft nicht wahrgenommen, ihre Friedenskompetenzen werden marginalisiert oder ignoriert und damit Chancen auf Krisenvermeidung oder Deeskalation vergeben – zum Leidwesen Zigtausender Menschen.

Abgrenzung oder Verständigung? 

Der Vertrauensvorschuss für religiöse Akteure gilt über alle religiösen, kulturellen und ethnischen Grenzen hinweg, selbst wenn Konfliktparteien und Vermittler unterschiedlichen Religionen angehören. Zudem zeigen empirische Untersuchungen, dass keine Religion eher zu Gewalt (oder zu Friedfertigkeit) neigt als andere. Alle Religionen bergen die Gefahr, Konflikte zu verschärfen – und zugleich das Potenzial, Konflikte und Gewalt zu überwinden. Die große Bandbreite verschiedener Interpretationen von religiösen Schriften (oder Teilen daraus), Überlieferungen und Traditionen führte in allen Religionen zu einer Vielzahl und Vielfalt verschiedener Konfessionen, Strömungen, Gemeinschaften oder Gruppierungen. Diese Bandbreite an Auslegungen ermöglicht es aber zugleich, jedes Handeln – auch und gerade Gewalthandeln – religiös zu begründen und zu legitimieren. 

Im Blick auf Konflikte sind Religionen zunächst also weder gut noch schlecht. Sie sind vielmehr wie die berühmte Medaille mit den zwei Seiten, einer konfliktverschärfenden und einer konfliktentschärfenden, friedenstiftenden Seite. Welche Seite der Medaille stärker wirkt, liegt zuerst in der Verantwortung der Religionsgemeinschaften und jedes einzelnen Gläubigen: Beschäftigen sie sich vor allem mit den ab- und ausgrenzenden Aspekten von Religion, mit den angstvollen und gewaltgeneigten Anteilen in der religiösen Überlieferung – in der eigenen wie auch in einer anderen Religion –, oder orientieren sie sich an den religiösen Friedensaufrufen, an der Gewaltverneinung in den Überlieferungen, an den Gemeinsamkeiten, den verbindenden Werten?

Das religiöse und kulturelle Umfeld, religiöse Bildung beziehungsweise Erziehung und religiöse Vorbilder spielen dabei eine große Rolle, in die eine oder eben in die andere Richtung. Zugleich ist es von eminenter Bedeutung, dass die Friedensverantwortung und die Friedenskompetenzen der Religionsgemeinschaften von der Politik wahrgenommen werden. Und mehr noch: dass religiöse Friedensakteure an ihre Verantwortung erinnert, dass sie ermutigt und aktiv in Friedensbemühungen einbezogen werden. 

Politik, Religionsgemeinschaften und säkulare Friedensinitiativen haben einander viel zu geben und können viel voneinander profitieren. Wenn sie alle ihre unterschiedlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten in gemeinsame Anstrengungen einbringen, dann ist viel mehr Frieden möglich, als wir uns heute vorstellen können – ­lokal, national und global.

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