„Ein neuer Höhepunkt der Spannungen“
Achim Steiner, Chef des UN-Entwicklungsprogramms UNDP, spricht über weltweite Krisen und Deutschlands Rolle in den Vereinten Nationen.
Herr Steiner, wir erleben derzeit mehr Konflikte als jemals seit dem Zweiten Weltkrieg. Welcher Konflikt beunruhigt Sie besonders?
In der Tat brennt es im Moment an vielen Orten in der Welt; wir sehen gerade einen neuen Höhepunkt der Spannungen. Ein Viertel der Weltbevölkerung lebt in Ländern oder Gebieten, die von Konflikten irgendeiner Art betroffen sind. Und jeder von ihnen hat seine eigenen Härten, vor allem für die betroffenen Menschen. Da ist es schwer einen einzigen herauszugreifen, der besonders schlimm wäre.
In Europa tendieren viele dazu, den Krieg in der Ukraine als besonders folgenschwer zu betrachten. Ist das eine einseitige Sicht?
Der Krieg in der Ukraine hat natürlich geopolitische und geowirtschaftliche Folgen, die seine negativen Wirkungen noch einmal potenzieren. Das beginnt bei Fragen der Energie- und Nahrungsmittelsicherheit und endet bei einer machtpolitischen Auseinandersetzung, die an den Kalten Krieg erinnert. Das gibt diesem Krieg eine besondere Schärfe. Aber gleich ist allen Konflikten, dass sie Entwicklung verhindern oder sogar rückgängig machen. Beispiel Jemen: Nach acht Jahren Bürgerkrieg ist die Bilanz verheerend. Unserer Schätzung zufolge wurde das Land dadurch um ein Vierteljahrhundert zurückgeworfen.
Neben der Vielzahl an Krisen stehen auch Demokratien weltweit unter Druck. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Das bedauere ich persönlich sehr, denn ich möchte, wie die meisten Menschen, lieber in einer Demokratie leben. Aber die Aufteilung bei Entwicklungsfortschritten in erfolgreiche Demokratien hier und gescheiterte Autokratien dort greift zu kurz. Gerade in einigen sehr etablierten Demokratien kam es in den vergangenen Jahren zu großen Rückschlägen, Polarisierungen und auch zu wachsender sozialer Ungleichheit. Umgekehrt gab es teilweise beeindruckende Entwicklungsfortschritte in weniger „freien“ Systemen.
Die Schwarz-Weiß-Malerei hilft nicht unbedingt weiter. Als Vereinte Nationen setzen wir uns immer für den Schutz der Menschenrechte ein, und müssen trotzdem oft dort arbeiten, wo die Realität nicht den Normen und Konventionen der UN entspricht. Trotz aller Widersprüche engagieren sich die UN seit über 75 Jahren für die Grundwerte der UN-Charta sowie die Einhaltung internationalen Rechts – sei es in Bezug auf Flüchtlinge, Umwelt, Kinder und Jugendliche oder Abrüstung.
Kommen wir zu den nachhaltigen Entwicklungszielen. Die Bilanz zur Halbzeit der Agenda 2030 ist ernüchternd. Haben die Ziele angesichts der realen Weltlage ihre Bedeutung verloren?
Nein. Und so zu denken, halte ich übrigens für einen großen Fehler. Denn die 17 Ziele, die wir 2015 in der Generalversammlung verabschiedet haben, bilden die großen Risiken unserer Zeit ab. Und die bleiben, auch wenn wir die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) aufgeben würden. Sie sind ein guter Rahmen für alle Länder dieser Welt. Ich bin davon überzeugt, dass sich ihre Logik auch in der Zukunft fortsetzen wird.
Woran liegt es, dass nur 15 Prozent der Ziele und Unterziele bisher im Plan sind?
Die diversen Kriege und die Corona-Pandemie haben uns zurückgeworfen.
Die SDGs waren auch vor Corona nicht im Plan.
Stimmt. Weil vieles einfach hinausgezögert wurde und zu lange gewartet worden ist. Nehmen Sie den Klimaschutz. Seit etwa drei Jahrzehnten ist klar und öffentlich bekannt, dass er eine ernst zu nehmende Bedrohung ist. Trotzdem werden fossile Brennstoffe immer noch stark subventioniert, haben im Jahr 2022 – natürlich auch wegen des Kriegs in der Ukraine – einen neuen Rekord erreicht.
Gibt es ein Feld, auf dem Sie derzeit Fortschritte sehen?
Durchaus, und zwar verschiedene. Ein Beispiel möchte ich anführen: Wiederum durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine erleben wir exponentiell wachsende Investitionen in erneuerbare Energien, die in der Geschwindigkeit sonst wohl nicht gekommen wären. Inzwischen gibt es eine Reihe von Ländern aus dem globalen Süden mit beeindruckender Leistung: Uruguay deckt 95 Prozent seiner Stromversorgung aus erneuerbaren Quellen, Kenia 92 Prozent, Brasilien 70 Prozent. Das heißt, diese Veränderungen, die Übergänge finden nun statt. Aber das Zögern am Anfang war zu groß.
Deutschland feiert 2023 seinen UN-Beitritt vor 50 Jahren. Wie würden Sie die Rolle der Bundesrepublik in den UN beschreiben?
Deutschland ist ein anerkannter und auch in diesen Krisenzeiten verlässlicher Partner in den Vereinten Nationen. So hat die Bundesregierung zum Beispiel ihre Beiträge für die internationale Entwicklungszusammenarbeit in den vergangenen Jahren signifikant gesteigert und liegt beim UNDP an zweiter Stelle. All das wird gesehen und honoriert.
Seit einigen Jahren ist immer wieder die Forderung zu hören, Deutschland solle mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Teilen Sie diese Ansicht?
Meines Erachtens müssten viele reiche Industriestaaten ihren Horizont noch einmal erweitern. Sie unterschätzen im Augenblick, wie sehr die Zukunft zum Beispiel Europas von dem abhängt, was im Rest der Welt geschieht. Das heißt auch, es muss noch mehr in Internationales investiert werden. Die Geber insgesamt stehen derzeit bei einem Anteil von 0,36 Prozent, der vom Bruttoinlandsprodukt für internationale Zusammenarbeit ausgegeben wird. Gefordert sind seit Jahrzehnten 0,7 Prozent. Die Marge hat Deutschland zwar zuletzt erfüllt, aber viele Jahre nicht. Viele andere Länder erfüllen sie bis heute nicht. Es ist naiv zu glauben, dass wir mit dem bisherigen Engagement und mit einer Finanzierung auf diesem Niveau die Probleme der Welt lösen könnten.