Zum Hauptinhalt springen

„Nur ein scheinbarer Widerspruch“

Wie passt die „Zeitenwende“ zu den Werten von Multilateralismus und regelbasierter Ordnung? Konfliktforscher Jonas Driedger gibt Antworten. 

Interview: Helen Sibum , 17.02.2023
Wandbild an einem zerstörten Wohnhaus in Kiew
Wandbild an einem zerstörten Wohnhaus in Kiew © picture alliance/dpa

Herr Driedger, „Zeitenwende“ war in Deutschland das Wort des Jahres 2022. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte den Begriff mit Blick auf den Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine verwendet. Was war damit gemeint?
Gemeint war, dass eine grundlegende Justierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik erfolgen würde. Konkret kündigte Scholz eine enorme Investition in die Bundeswehr, Waffenlieferungen an die Ukraine und den Stopp des Genehmigungsverfahrens für die Gas-Pipeline Nord-Stream 2 von Russland nach Deutschland an.

Jonas Driedger
Jonas Driedger © TraCe

Deutschlands Außenpolitik steht für die Prinzipien von Multilateralismus und regelbasierter internationaler Ordnung – wie passt das in diese neue Zeit?
Schauen wir zunächst auf die regelbasierte Ordnung: Man könnte meinen, dass die Lieferung von Waffen an die Ukraine einen Widerspruch dazu darstellt, man kann es aber auch anders sehen. Für eine regelbasierte Ordnung einstehen heißt, die Regeln des internationalen Systems ernst zu nehmen, sie zu verteidigen und enorme Verletzungen zu ahnden. Die Souveränität der einzelnen Staaten stellt das Rückgrat der internationalen Ordnung dar. Die Eroberung und Annektierung von Territorium eines souveränen Landes ist ein erheblicher Verstoß dagegen. Auch das Recht auf Selbstverteidigung von Staaten ist ein Grundsatz unserer regelbasierten Ordnung, ebenso wie das Recht, dabei Hilfe zu erhalten.  

Wie verträgt sich die Zeitenwende mit dem Multilateralismus?
Multilateral zu handeln bedeutet zwar, dass man mit seinen Gegnern spricht und versucht, Konflikte innerhalb von Institutionen zu klären. Es bedeutet aber auch, dass man dies im Einklang mit den eigenen Verbündeten tut, und das sind für Deutschland primär die EU und die NATO. Es wäre also vielmehr unilateral gewesen, sich zum Beispiel gegen die Russland-Sanktionen zu wenden. Ich würde den scheinbaren Widerspruch zwischen einer robusten Unterstützung der Ukraine auf der einen Seite und einem Fokus auf die Werte von Multilateralismus und regelbasierter Ordnung auf der anderen Seite also in Frage stellen.  

Dieses YouTube-Video kann in einem neuen Tab abgespielt werden

YouTube öffnen

Inhalte Dritter

Wir verwenden YouTube, um Inhalte einzubetten, die möglicherweise Daten über deine Aktivitäten erfassen. Bitte überprüfe die Details und akzeptiere den Dienst, um diesen Inhalt anzuzeigen.

Einverständniserklärung öffnen

Piwik is not available or is blocked. Please check your adblocker settings.

Wie verändert die Zeitenwende Deutschlands Rolle als geopolitischer Akteur?
Neu ist, dass Deutschland Waffen – auch Kriegswaffen – in diese Art von Krisengebiet sendet und gleichzeitig die eigenen militärischen Fähigkeiten deutlich ertüchtigt. Außerdem hat die Zeitenwende eine gedankliche Neuorientierung in Sachen Ukraine und Russland mit sich gebracht. In Deutschland hat man von 2014 bis Anfang 2022 immer vom „Krieg in der Ukraine“ gesprochen – ein Name, in dem Russland nicht vorkommt. In den Vertragswerken, für die auch Deutschland und Frankreich eingestanden haben – die Minsk-Protokolle und das Normandie-Format –, war Russland nicht einmal offizieller Konfliktpartner und die Ukraine musste viele Zugeständnisse machen. Inzwischen gibt es in Deutschland einen Konsens darüber, dass die Ukraine wirtschaftlich und militärisch unterstützt werden muss und dass das Regime in Russland einen verbrecherischen Angriffskrieg führt. 

Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und wird es bleiben.
Konfliktforscher Jonas Driedger

Gibt es trotz Zeitenwende auch Kontinuitäten?
Ja. Deutschland ist in militärischen Fragen nicht proaktiv, sondern weiterhin eher reaktiv, schon aus strukturellen Gründen: Das Grundgesetz ist gewissermaßen eine Angriffskriegsverhinderungsmaschine. Zudem gilt in Deutschland das Ressortprinzip – alles, was zur Kriegsführung benötigt wird, ist auf verschiedene Ministerien verteilt. Darüber hinaus ist die Bundeswehr eine Parlamentsarmee und wird es auch bleiben. Und: Deutschland wird weiterhin multilateral agieren, das hat sich in der Debatte um Panzerlieferungen gezeigt. Die Zeitenwende bedeutet also nicht, dass Deutschland als wilhelminischer, unilateraler Gigant wieder aufersteht. 

Wird die Zeitenwende von Dauer sein?
Trotz der genannten Einschränkungen: Weil sich die grundlegende Meinung gegenüber Russland und der Ukraine geändert hat und weil wir bereits in den Konflikt involviert sind, gehe ich davon aus, dass Kernelemente der Zeitenwende von Bestand sein werden.


 

Dr. Jonas J. Driedger forscht bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) zu zwischenstaatlichen Kriegen, Abschreckung in den internationalen Beziehungen, Beziehungen zwischen Großmächten und ihren Nachbarstaaten sowie russischer und transatlantischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Er hat unter anderem in Moskau und Kiew gelebt.

© www.deutschland.de 

Du möchtest regelmäßig Informationen über Deutschland bekommen? Hier geht’s zur Anmeldung: