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„Unser Handeln muss sich beschleunigen“

Mit Fachleuten aus der ganzen Welt arbeitet Imme Scholz an einem UN-Bericht, der die Umsetzung der Agenda 2030 fördern soll. 

Interview: Helen Sibum, 09.06.2021
Soziologin und Nachhaltigkeitsexpertin Imme Scholz
Soziologin und Nachhaltigkeitsexpertin Imme Scholz © Deutsches Institut für Entwicklungspolitik

Die Ziele der Agenda 2030 sind klar – doch wie sollen sie in der verbleibenden Zeit erreicht werden? Mögliche Ansätze dazu soll ein neuer Expertenbericht liefern. UN-Generalsekretär António Guterres hat dazu ein 15-köpfiges Gremium einberufen. Zu den internationalen Fachleuten gehört Imme Scholz, stellvertretende Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik und stellvertretende Vorsitzende des Rats für Nachhaltige Entwicklung.

Frau Professorin Scholz, der nächste Bericht zur globalen nachhaltigen Entwicklung, an dem Sie beteiligt sind, wird 2023 erscheinen. Angesichts der Folgen der Corona-Krise wird er wohl nicht besonders positiv ausfallen, oder?

Es werden in der Tat erhebliche Rückschritte vorausgesagt und zum Teil sind sie auch schon sichtbar. Armut, Ungleichheit und Hunger haben zugenommen, die Gesundheit hat sich verschlechtert. Mit Blick auf die Bildung wissen wir aus Studien: Wenn Kinder für längere Zeit aus der Schule herausgenommen werden, etwa wegen Kriegen oder Konflikten, wirkt sich das später messbar in Einkommensverlusten aus. Meine größte Befürchtung ist, dass die Pandemie uns auch beim Klimaschutz zurückwirft. Viele Länder im globalen Süden sind schon jetzt überschuldet und haben für den Umbau der Infrastruktur keine Ressourcen. Die Industrieländer dagegen haben große Aufbau- und Konjunkturprogramme für die Zeit nach Corona, die sie auch für den Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit nutzen könnten – aber es fehlt oft der politische Mut zu den nötigen Veränderungen.

Der Bericht des UN-Expertengremiums soll die Politik beim Erreichen der Nachhaltigkeitsziele unterstützen. Wie ist die Gruppe zusammengesetzt und was ist Ihre Rolle?

Das Gremium besteht aus Expertinnen und Experten der Natur- und der Sozialwissenschaften aus allen Weltregionen. Gemeinsam mit John Agard aus Trinidad und Tobago habe ich den Vorsitz. Unsere Aufgabe ist es, einen neuen, wegweisenden Bericht zu erstellen. Dafür wollen wir an den jüngsten Bericht von 2019 anknüpfen. Dessen wesentlicher Beitrag war es, die 17 Nachhaltigkeitsziele in sechs Bereiche zu gruppieren, in denen nachhaltige Entwicklung vorangebracht werden muss: zum Beispiel nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme, erneuerbare Energieversorgung und eine Wirtschaft, die nachhaltig produziert und menschenwürdige Arbeit schafft. Der Bericht definierte zudem, welche Hebel in diesen Bereichen genutzt werden müssen, um systemische Veränderungen zu schaffen.

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Welche Hebel sind das?

Gute Regierungsführung, eine nachhaltige Wirtschafts- und Finanzpolitik, individuelles und gemeinschaftliches Handeln sowie der Einsatz von Wissenschaft, Technologie und Innovationen. In der neuen deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist dieser Ansatz übrigens aufgenommen worden. Aus meiner Sicht war das möglich, weil sich die Bundesregierung seit 2002 mit Nachhaltigkeitspolitik befasst und weil sie durch engagierte Bürgerinnen und Bürger und eine Fachöffentlichkeit herausgefordert wird, etwa durch den Rat für Nachhaltige Entwicklung, das Netzwerk SDSN Germany, die Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 und die wissenschaftlichen Beiräte der verschiedenen Ministerien

Kann Deutschland im Bereich Nachhaltigkeit ein Vorbild sein?

Deutschland hat international ein hohes Ansehen im Nachhaltigkeitsbereich und das deutsche Wort hat Gewicht. Viele sind daran interessiert, mit Deutschland in den Austausch zu kommen. Das ist Chance und Verpflichtung zugleich: Im Gespräch mit internationalen Fachleuten, die sich näher mit der deutschen Nachhaltigkeitspolitik beschäftigen, hören wir auch immer wieder, dass sie in Deutschland eine schnellere und ambitioniertere Umsetzung erwartet hätten.

Derzeit ist der internationale Fachaustausch wegen der Corona-Pandemie erschwert. Wie läuft die Arbeit des UN-Gremiums eigentlich in der Praxis ab?

Wir sind in der Arbeit natürlich ein bisschen eingeschränkt, weil wir uns nicht physisch treffen können. Sicher hat uns geholfen, dass jetzt alle viel Erfahrung mit dem virtuellen Arbeiten haben. Aber über sämtliche Zeitzonen hinweg zusammenzukommen, ist sehr schwierig. Wir haben uns deshalb aufgeteilt und drei Arbeitsgruppen gebildet.

Insbesondere ein Scheitern bei den Zielen zu Klima und Biodiversität wäre fatal.
Imme Scholz, Expertin für nachhaltige Entwicklung

Mit welchem Themen beschäftigen sie sich?

In der ersten Gruppe geht es um die Faktoren, die bei der Verabschiedung der Agenda 2030 im Jahr 2015 noch nicht im Blick waren: etwa der wachsende Trend zur Klimaneutralität und die Digitalisierung. Die zweite Gruppe beschäftigt sich mit der Frage, was aus der Corona-Krise für die nötigen Transformationsprozesse im Bereich Nachhaltigkeit gelernt werden kann. Das ist wichtig, denn unser Handeln muss sich beschleunigen – das wäre auch ohne die Corona-Pandemie nötig gewesen, denn sonst schließen sich wichtige Zeitfenster. In der dritten Gruppe geht es darum, wie die genannten Hebel genauer gefasst und effektiver als bisher angewendet werden können.

Sind Sie insgesamt optimistisch, dass die Ziele der Agenda 2030 noch erreicht werden?

Das Ziel, die extreme Armut bis 2030 zu beseitigen, kann man nicht mehr erreichen. Das liegt nicht nur an der Pandemie – auch 2018 und 2019 hatte der Rückgang in diesem Bereich schon deutlich nachgelassen. Natürlich stellt man sich jetzt die Frage, ob wir Prioritäten setzen sollten: Welche Ziele müssen unbedingt erreicht werden? Ich würde schon sagen, dass insbesondere ein Scheitern beim Klimaziel und auch bei den Zielen zur Biodiversität fatal wäre. Je länger die negativen Trends in diesen Bereichen andauern, desto schwerer sind sie zu stoppen und rückgängig zu machen.

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