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„Ein Ereignis, das nie wieder geschehen darf“

Mariia Ilkiv forscht in den Arolsen Archives zu Schicksalen von NS-Opfern. Ihre slawischen Sprachkenntnisse helfen dabei sehr.

Protokoll: Sarah Kanning, 09.11.2020
Mariia Ilkiv aus der Ukraine
Mariia Ilkiv aus der Ukraine © privat

„Geschichte war immer ein wichtiges Thema in unserer Familie. Mein Großvater gehörte im Zweiten Weltkrieg der politischen Untergrundbewegung in der Ukraine an und kam dafür in ein sowjetisches Gefangenenlager. Er hat später viel darüber gesprochen und mich inspiriert, Geschichte zu studieren. Ich wollte praktische Erfahrung sammeln und sehen, wie mein Großvater die Zeit im Lager überleben konnte. Da Deutschland eines der Länder ist, welches sich sehr intensiv mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt und viel Wert auf Geschichtsarbeit legt, habe ich mich entschieden, hier nach einem passenden Freiwilligendienstprojekt zu suchen.

Über den Verein Aktion Sühnezeichen Friedensdienste habe ich ein Jahr lang Freiwilligendienst bei den Arolsen Archives geleistet, einem internationalen Zentrum über NS-Verfolgung. Seit Kurzem arbeite ich fest hier. Ich habe vor allem Anfragen von Menschen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion beantwortet, die etwas über das Schicksal ihrer Angehörigen erfahren wollten. Manche Familienmitglieder waren in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen, andere zur Zwangsarbeit verschleppt. Natürlich ist es schwierig für mich, emotional mit diesen Informationen umzugehen, aber es ist eine sehr wichtige Aufgabe. Sie erfüllt nicht nur mich selbst, sondern ist auch für andere Menschen ganz entscheidend. Oft sind es Nachkommen der zweiten oder dritten Generation, die etwas über vermisste Angehörige erfahren wollten. Manche hatten damals auch überlebt – aber nie wieder über das Erlebte gesprochen.

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Neben unzähligen Dokumenten liegen im Archiv auch sehr viele Gegenstände, die den Arolsen Archives nach dem Zweiten Weltkrieg zur Aufbewahrung geschickt wurden. Ich habe einen Teil dieser Gegenstände beschrieben und versucht, die Besitzer zu ermitteln, um die Gegenstände an sie oder Angehörige zurückzuschicken. Viele Objekte gehörten Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion. Fotos, Briefe, Uhren, ein Ring, eine Halskette. Bei dieser Aufgabe war es wichtig, dass ich osteuropäische Sprachen spreche. Viele Notizen, beispielsweise auf der Rückseite eines Fotos, waren in kyrillischer Schrift. Über Transportlisten, Registrationskarten aus den Konzentrationslagern und zahlreiche anderen Dokumente aus unserem Archiv versuchte ich etwas über die Menschen herauszufinden.

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Es ist schön, dass die Arolsen Archives Gegenstände zurückgeben – denn oft sind sie das letzte Andenken, das Angehörige von einem Verwandten besitzen. Tatsächlich ist es mir nur ein einziges Mal in diesem Jahr gelungen. Es war eine Taschenuhr, die einem Mann aus der Ostukraine gehört hatte, der wahrscheinlich im Konzentrationslager Neuengamme in Hamburg starb. Ich fing an, Kontakte zu suchen und arbeitete mich durch unser Rechercheprogramm. Leben noch Angehörige? Wer kann weiterhelfen? Das sind Fragen, die diesen Prozess begleiten. Der Stadtrat von Lyssytschansk, der Heimatstadt des ehemaligen Häftlings, hat uns sehr unterstützt, ebenso das dortige Heimatmuseum – doch wir konnten keine Angehörigen finden. Irgendwann mussten wir uns damit abfinden. Da fragte das Museum an, ob sie die Uhr vielleicht ausstellen dürfen. Man muss sich klarmachen: Da ist dieser Mensch, der wahrscheinlich im Konzentrationslager starb, niemand weiß, was wirklich passiert ist – und nach Jahrzehnten findet diese Taschenuhr ihren Weg zurück in seinen Geburtsort. Das hat mich sehr berührt.

Arbeit in den Arolsen Archives
Arbeit in den Arolsen Archives © picture alliance / dpa | Uwe Zucchi

Erinnerungskultur ist nicht statisch. Das merke ich in meiner Heimat sehr deutlich an der Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs. Als ich noch zur Uni ging, wurde das Kriegsende am 9. Mai immer wie ein Fest gefeiert. Das war die sowjetische Sicht auf diesen Tag. Mit der Revolution 2014 und der neuen Regierung hat sich das verändert. Seither begehen wir diesen Tag als Gedenken an eine gemeinsame Katastrophe, als ein Ereignis, das nie wieder geschehen darf.

Auch schon während des Zweiten Weltkriegs war die Ukraine geteilt – das erschwert eine gemeinsame Erinnerungskultur. Doch diese Zeit ist nicht nur vergangen, sie ist nicht so weit weg, wie wir denken. Sie ist für alle Zeiten direkt mit uns verbunden. Es ist gefährlich zu denken, dass die Vergangenheit lange vorbei ist und nicht wiederkommt. Damit riskieren wir, dass sich die Geschichte wiederholt. Es ist sehr wichtig, dass sich auch junge Menschen mit der Geschichte weiter auseinandersetzen. Meine ehemaligen Kommilitonen finden meine Arbeit sehr spannend. Doch ich habe auch immer wieder das Unverständnis anderer gespürt, die sich fragten, warum ich hier freiwillig ohne Gehalt arbeitete. Doch für mich ist es ein großes Glück, bei den Arolsen Archives diese Chance erhalten zu haben.“

Mariia Ilkiv stammt aus der Ukraine. Nach einem Freiwilligendienst über den Verein Aktion Sühnezeichen Friedensdienste bei den Arolsen Archives, arbeitet sie seit September 2020 fest dort.

Die Arolsen Archives sind ein internationales Zentrum über NS-Verfolgung und besitzen das weltweit umfassendste Archiv zu Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Bis April 2019 arbeiteten sie unter dem Namen „Internationaler Suchdienst“. Die Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen ist Teil des Unesco-Weltdokumentenerbes.

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