Geschichte feiern, Zukunft gestalten
#2021JLID: Dieses Jahr feiern wir 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – erfahrt hier, was euch im Festjahr erwartet.
Jüdisches Leben sichtbar und erlebbar machen, dem erstarkenden Antisemitismus entgegen treten, gemeinsam zusammenstehen – trotz der Corona-Pandemie. Das sind die Ziele des Festjahres #2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland. Bundesweit werden rund tausend (vor allem auch digitale) Veranstaltungen ausgerichtet. Darunter Konzerte, Ausstellungen, Musik, ein Podcast, Video-Projekte, Theater, Filme. Der Festakt, der am 21. Februar in der Kölner Synagoge stattfindet, ist der bundesweite Auftakt zu diesem besonderen Jahr unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Was im Festjahr genau gefeiert wird und wie wir nicht nur im Jubiläumsjahr gegen Antisemitismus vorgehen können, berichten in unserem Doppelinterview Sylvia Löhrmann, Generalsekretärin des Vereins „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ sowie ehemalige stellvertretende Ministerpräsidentin in NRW, und Andrei Kovacs, Geschäftsführer des Vereins „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ und Enkel von Überlebenden der Shoah.
Herr Kovacs, was genau feiern wir, wenn wir 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland feiern?
Andrei Kovacs: Wir feiern 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, weil wir wieder eine Chance haben, jüdisches Leben in einer pluralistischen Gesellschaft zur Geltung kommen zu lassen. In Deutschland leben etwa 150.000 jüdische Menschen, von denen rund 100.000 in den Gemeinden eingeschrieben sind. Das ist 76 Jahre nach der Shoah nicht selbstverständlich. Wir können jüdisches Leben wieder zeigen und erlebbar machen. Das ist ein Grund, dieses Festjahr zu feiern. Das Festjahr ist für uns die Chance, uns im Gleichsein und im Anderssein zu begegnen. Wir sind laut, wir sind bunt, wir sind auch manchmal anstrengend, aber wir wollen ein normaler Teil dieser Gesellschaft sein.
Kann man 1700 Jahre jüdisch-deutsche Geschichte betrachten, ohne über 1700 Jahre Antisemitismus zu reden?
Kovacs: Antisemitismus ist vermutlich eines der ältesten und stetig mutierenden Viren der Menschheitsgeschichte. Wir reden leider auch über 1700 Jahre Antijudaismus und Antisemitismus. Aber neben Zeiten der Verfolgung und Ermordung gab es auch Zeiten der Emanzipation und Integration. Es gab Blütezeiten jüdischen Lebens in Deutschland. Schauen wir etwa auf die SchUM-Städte, ein Beispiel für jüdische Emanzipation im 12. Jahrhundert. Als SchUM-Städte bezeichneten die Juden im Mittelalter die drei größten und einflussreichsten jüdischen Gemeinden im deutschen Raum: Mainz, Worms und Speyer. Wir erinnern an Raschi, einen der bedeutendsten Rabbiner des Mittelalters, der zum Studium nach Worms und Mainz kam. Das sind Zeichen für Zeiten, in denen sich Juden in Deutschland beteiligen konnten.
Löhrmann: Die Gründungsväter und -mütter dieses Vereins haben lange überlegt: Wie nennen wir das, was wir da feiern? Wir haben uns gegen ein Gedenkjahr entschieden. Anlässe zum Gedenken haben wir viele – und sie haben ihre Berechtigung. Die Shoah gehört zur deutschen DNA, so hat der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck das formuliert. Es wird kein Festjahr mit Friede, Freude, Eierkuchen, sondern ein Jahr, das unsere 1700-jährige gemeinsame Geschichte würdigt. Es soll zeigen, wie konstitutiv das Judentum für die deutsche Geschichte ist.
Wie gut lässt sich jüdisches Leben in diesem Jahr unter Corona auf die Straßen tragen?
Kovacs: Gerade die Zeit von Corona ist die Zeit von Verschwörungserzählungen. Und damit eine Zeit wachsenden Misstrauens. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir uns nicht durch ein Virus stoppen lassen. Jüdisches Leben war immer gezwungen, sich anzupassen. Beim Festakt passen wir das Format an, aber er wird stattfinden. Wir haben einen Podcast gestartet, der sich mit dem jüdischen Leben auseinandersetzt, mit vielen Prominenten. Die Beiträge brechen mit dem Stereotyp des jüdischen Menschen, sie sollen zeigen: Es gibt jüdisches Leben in vielen Ausprägungen und manchmal mehr jüdische Meinungen als jüdische Menschen. Wir haben ein Puppentheater, das die jüdischen Festtage begleiten und erklären wird. Die Festtage finden nicht hinter verschlossenen Türen statt. Es sind schöne, fröhliche, traurige, vielfältige Festtage, die wir niederschwellig erklären wollen, mancher erkennt vielleicht Parallelen zu eigenen Festen. Wir bleiben flexibel, damit wir trotz aller Herausforderungen das Programm umsetzen können. Wir lassen uns nicht stoppen.
Löhrmann: Das Festjahr lebt von der Dezentralität und von der Zivilgesellschaft. Wir gehen derzeit von rund 1000 Veranstaltungen aus. So hat sich das Robert Koch-Institut mit der Geschichte seiner jüdischen Mitarbeiter nach 1933 auseinandergesetzt – und die haben gerade wahrlich genug zu tun. Aufklärung und Begegnung sind das wirksamste Mittel gegen Vorurteile und Rassismus. Dass ein großer Teil digital stattfindet, macht für viele die Teilnahme von zu Hause aus leichter.
Kovacs: Man lernt seinen Nachbarn besser kennen, wenn man mit ihm ein Wein oder ein Bier trinkt, als wenn man seinen Lebenslauf studiert und durchs Fernglas in die Nachbarwohnung guckt. Durch Begegnung entsteht Empathie – und damit lassen sich antisemitische Stereotype, die noch in jedem dritten Kopf herumspuken, am besten bekämpfen.
Sie haben die Shoah angesprochen. Wie kann und muss man diese zwölf Jahre in ein Jahr einbauen, das sich den 1700 Jahren geteilter Geschichte widmet?
Kovacs: Wir können nicht sagen: Wir reden über 1688 Jahre – und nebenbei gab es noch die Shoah. Das ist das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte – und es endete erst vor 76 Jahren. Die Verstörungen, die das bis heute auslöst, müssen wir thematisieren. Die Vergangenheit können wir nicht mehr ändern, die Gegenwart können wir beeinflussen, aber die Zukunft, die können wir gestalten. Deswegen müssen wir gemeinsam darüber nachdenken: Welche Relevanz hat die Shoah für die Gesellschaft heute und morgen?
Löhrmann: Das „Nie wieder“ bleibt als Auftrag. Aber es ist auch wichtig zu zeigen, dass das Judentum nichts Neues und nichts Fremdes ist. Wir werden eine Sonderbriefmarke haben – dabei haben wir gemerkt, wie viele Briefmarken mit jüdischen Menschen es schon gab. Da waren Else Lasker-Schüler, Albert Einstein, Karl Marx, Heinrich Heine, Rosa Luxemburg. Sich bewusst zu machen: Sie alle gehören zu Deutschland, macht klarer, um was es geht: Dass sich Nicht-Juden und Juden begegnen, um darüber zu reden: Wie wollen wir alle gemeinsam die Zukunft dieses Landes gestalten?