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Deutschland ohne Mauer

Eine Bilanz: Vieles hat sich in 30 Jahren normalisiert, aber Unterschiede sind geblieben.

Herfried Münkler, 04.11.2019
Heute ist die Mauer in Berlin eine Touristenattraktion.
Heute ist die Mauer in Berlin eine Touristenattraktion. © dpa

In der Euphorie der ersten Monate nach dem Fall der innerdeutschen Grenze haben sich die meisten Beobachter das Zusammenwachsen der beiden Staaten und ihrer Wirtschaftssysteme leichter vorgestellt, als es dann tatsächlich wurde. Es wurde ein langer und mühsamer Weg, an dessen Ende das vereinte Deutschland noch nicht angekommen ist. Am Anfang unterschätzte man die wirtschaftlichen Probleme der Vereinigung, weil die wirtschaftliche Potenz der DDR sehr viel höher eingeschätzt wurde, als sie tatsächlich war. Danach hatte man die tiefe Prägung, die das DDR-System in den Mentalitäten der Menschen hinterlassen hatte, nicht hinreichend im Blick, und als der Zauber des Neuanfangs verflogen war, machte sich bei vielen eine große Nostalgie breit. Bis heute gibt es obendrein keine Antwort auf die Unzufriedenheit vieler, die aus der Entwertung ihrer Lebensleistung nach den Zusammenbruch der DDR erwachsen ist. 30 Jahre nach dem Mauerfall sind die materiellen Probleme des Zusammenwachsens weitgehend gelöst; die Unterschiede in der sozialen Mentalität und der politischen Kultur sind geblieben.

Herfried Münkler: „Die Unterschiede in der Mentalität sind geblieben.“
Herfried Münkler: „Die Unterschiede in der Mentalität sind geblieben.“ © dpa

Vermutlich wird man sich damit auf lange Zeit, wenn nicht auf Dauer, abfinden müssen; schließlich gibt es auch in den alten Bundesländern (und gab es in der alten Bundesrepublik) erhebliche Unterschiede in den politischen Grundeinstellungen der Süd- und der Norddeutschen. In diesem Sinn sind die Ostdeutschen als dritte Mentalitätsgruppe dazugekommen. So jedenfalls sieht es der entdramatisierende Blick auf das vereinigte Deutschland, der nicht wie gebannt auf die von den Demoskopen immer wieder herausgestellten Ost-West-Unterschiede schaut. Deutschland, das erst spät den Weg zum Nationalstaat beschritten hat, ist seit jeher ein Land mit starken regionalen Eigenheiten. Das wird sich vorerst nicht ändern.

Deutschland ist seit jeher ein Land mit starken regionalen Eigenheiten
Herfried Münkler, Politikwissenschaftler

Auch wenn mit den Ostdeutschen eine migrationskritische, mitunter xenophobe, überwiegend antiislamische Komponente in das Meinungsspektrum und Wahlverhalten der Deutschen hineingekommen ist, so hat das keineswegs eine Sonderstellung Deutschlands in Europa zur Folge; eher wird man sagen können, dass die Deutschen sich, was ihre Neigung zu rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen, innerhalb des europäischen Gesamttrends bewegen, mit dem besonderen Merkmal, dass die Rechtspopulisten hierzulande nirgendwo den Schritt in die Regierung geschafft haben. Deutschland hat sich im europäischen Vergleich normalisiert, auch was ein Minus an politischer Stabilität und die für die Zukunft zu erwartenden größeren Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung anbetrifft.

Damals war die Grenze ein beängstigender Anblick: Die „Interzonenautobahn bei Marienborn“.
Damals war die Grenze ein beängstigender Anblick: Die „Interzonenautobahn bei Marienborn“. © dpa

Was sich indes deutlich verändert hat, sind das wirtschaftliche Gewicht und die politische Verantwortung Deutschlands innerhalb der Europäischen Union. Waren Frankreich, Italien und Großbritannien bei den ökonomischen und demographischen Daten früher mit der alten Bundesrepublik in etwa gleichauf, so hat sich das seit 1990 erheblich verändert: Inzwischen ist Deutschland das bei weitem bevölkerungsstärkste Mitgliedsland der EU, das auch über die bei weitem stärkste Wirtschaftskraft verfügt. Die Bundesregierung ist mit dem ihr dadurch zugewachsenen Einfluss zurückhaltend umgegangen und hat ihre neue Rolle eher als gesteigerte Verantwortung denn als größerer Durchsetzungsfähigkeit interpretiert. Dabei dürfte es auf absehbare Zeit bleiben – selbst dann, wenn das von vielen geforderte stärkere Engagement Deutschlands in der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäer in den nächsten Jahren tatsächlich realisiert wird.

Der Autor: Prof. Dr. Herfried Münkler ist einer der bedeutendsten deutschen Politikwissenschaftler. Vor seiner Emeritierung im Oktober 2018 lehrte er an der Humboldt-Universität in Berlin.

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