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„Es ist möglich, den Mut zu wählen“

Joachim Gauck, der deutsche Bundespräsident. Ein Mann der Hoffnung. Ein Porträt.

13.08.2012
© picture-alliance/BREUEL-BILD

Wer hätte dies 1989 oder 1990, nach dem Fall der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze, für möglich gehalten, dass das wiedervereinigte Deutschland einmal von zwei in der DDR aufgewachsenen Persönlichkeiten an der Spitze des Staates regiert beziehungsweise repräsentiert werden würde? Doch nun ist es so weit: Als Bundeskanzlerin amtiert Angela Merkel, zudem die erste Frau an der deutschen Regierungsspitze, als Bundespräsident Joachim Gauck. Diese ostdeutsch geprägte Doppelspitze ist ein kaum zu überschätzender Beitrag zur inneren Einheit des vormals geteilten Landes, der in seiner symbolischen und psychologischen Bedeutung nicht zurücksteht hinter den finanziellen und sozialpolitischen Anstrengungen, die neuen Länder und deren Bürger in der Bundesrepublik Deutschland heimisch zu machen.

Darüber hinaus ist das Herkommen sowohl der Bundeskanzlerin als auch des neuen Bundespräsidenten aus der vormaligen DDR und aus der Distanz und der Widerständigkeit gegen deren Diktatur ein wichtiges Signal – sowohl für die Deutschen selbst als auch für deren Nachbarn, nicht zuletzt für unsere Nachbarn in Ostmitteleuropa. Um es ohne übertriebenes Pathos zu sagen: Sowohl Angela Merkel als auch Joachim Gauck sind glaubwürdige Zeugen einer aus beklemmenden biografischen Erfahrungen gelebten Freiheitsliebe, die sich nahtlos mit der Bereitschaft verbindet, Deutschland dauerhaft in einem friedlichen Europa zu verankern; zumal da beide aus eigener Anschauung wissen, wie viel sie beim Heraustreten aus der von der kommunistischen Staatsherrschaft verordneten Unmündigkeit den Freiheitsbewegungen in unseren osteuropäischen Nachbarstaaten verdankten.

Wenn man nun ein erstes Bild des neuen, des elften deutschen Bundespräsidenten skizzieren will, dann sind nicht minder bezeichnend als die Gemeinsamkeiten in den Biografien und Prägungen der Bundeskanzlerin Angela Merkel wie des Staats­oberhauptes Joachim Gauck die durchaus markanten Unterschiede zwischen den beiden Persönlichkeiten, deren eine man im Licht und Gegenlicht der anderen leichter erkennen kann.

Hier also bis 1989 die junge nüchterne Naturwissenschaftlerin, die sich im Frühjahr 1990 in der deutschen „Wende“ und Wiedervereinigung ohne vorausgegangene politische Erfahrung und deshalb auch von vielen „alten Hasen“ der Politik, vor allem im Westen der Republik, maßlos unterschätzt, sofort in das parteipolitische, parlamentarische und sehr früh auch gouvernementale Getümmel stürzt und sich dort schließlich bis in die Spitzenposition durchsetzte, ohne großes rhetorisches Charisma (vielleicht sogar deshalb?). Dort der seit jeher und seither stets emotional bewegte und bewegende Pastor und Redner, den es, obwohl er keineswegs unpolitisch war, nie in die pragmatische Macht- und Parteipolitik zog, gerade als ob deren Handlungszwänge seinen eindrucksvoll hohen Ton gefährden müssten.

Zweierlei Politik, zweierlei Rhetorik, zwei Menschen, die trotz des gemeinsamen, in sich aber sehr kontrastreichen, ja oft gegensätzlichen Wurzelbodens des ostdeutschen Protestantismus kaum unterschiedlicher sein könnten: Diese merkwürdige Nähe fand ihren schönsten Ausdruck, als Angela Merkel, aus Anlass des 70. Geburtstags von Gauck um eine Lobrede gebeten, zu Beginn ihrer Ansprache meinte: Es sei ja nun schon so viel über ihn als den großartigen Redner gesagt worden, dass diese Laudatio am bes­ten er selber halten könnte. Manchmal siegt die Ironie sogar über das Pathos.

Woher kommt dieser Joachim Gauck, der nun nach zwei frühzeitig zurückgetretenen Bundespräsidenten und nach der aufgeheizten Affäre um seinen unmittelbaren Vorgänger wieder Glanz in das Berliner Schloss Bellevue bringen soll – dafür ausgestattet mit einem überwältigenden Vertrauensvorschuss und beladen mit fast unerfüllbaren Erwartungen; denn die Deutschen können sehr schnell von der Politikverachtung zur Politikanbetung (und zurück) umschwenken?

Joachim Gauck, 1940 im ersten Jahr des Zweiten Weltkriegs in Rostock geboren, ist ebenso ein Kind der End- und Nachkriegszeit wie auch ein Kind der frühen kommunistischen DDR. Sein Vater war 1951 von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet und zu zweimal 25 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt worden, vier Jahre später mit jenen Gefangenen zurückgekehrt, deren Befreiung Bundeskanzler Konrad Adenauer 1955 bei seinem Besuch in Moskau erreichen konnte. Was Zwangsherrschaft beider deutscher Art und Unrechtsjustiz bedeutete, muss sich ihm schon mit der frühen und jugendlichen Anschauung eingebrannt haben.

Jedenfalls hatte sich Gauck keiner der im SED-Staat eigentlich obligatorischen Jugendorganisationen angeschlossen, weshalb er später das Fach seiner Wahl, nämlich Germanistik, nicht studieren durfte. Das Studium der Theologie von 1958 bis 1965 war zwar ein Ausweichstudium, führte ihn aber, ohne dass er nun ein besonders eifriger theologischer Wissenschaftler wurde, in einen der wenigen, limitierten Freiräume im DDR-Regime – und damit in eine permanente, zähe Konfrontation mit dem Staat. Wer nun, wie einige Neider und Nachreder nachträglich vom sicheren Hort aus verlangten, er hätte als Pfarrer mindes­tens für einige Jahre ins Gefängnis gehen müssen, bevor man ihn als „Bürgerrechtler“ bezeichnen dürfe, verkennt, dass Gauck unter der Übermacht des SED- und Stasi-Staates sich die Möglichkeit erhalten musste, den ihm anvertrauten Menschen im Alltag zu helfen. Und diese Menschen musste er sich im Neubaugebiet von Rostock-Evers-hagen erst von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung zusammensuchen. „Menschenfischer“ müssen eben klein anfangen – aber dann können sie es auch. Jedenfalls, wer Joachim Gauck im Juni 1988 in Rostock predigen hörte: „Wir würden ja bleiben wollen, wenn wir gehen dürften“ (oder ihn schon 1983 in Wittenberg in einer kleinen Arbeitsgruppe auf dem Luther-Kirchentag kennenlernen konnte), litt seither nie auch nur unter einem Anflug des Zweifels: Dieser Mann ist echt – vom Kern her!

Nach der „Wende“ von 1989/1990 also der Weg in die Politik – und doch nicht in die Politik. Gauck hat maßgeblichen Anteil daran, dass die Akten der „Stasi“, der Geheimpolizei des DDR-Regimes, nicht etwa im Sinne einer schnellen „Versöhnung“ für alle Zeiten zubetoniert wurden. Sie sollten zugänglich bleiben – schon um den Opfern der autoritären Herrschaft zeigen zu können, wie ihre Biografien hinterrücks deformiert worden waren; und um zu verhindern, dass mit falschen Bezichtigungen Opfer des Regimes zu Tätern umgedeutet werden konnten. Zehn Jahre lang hat Joachim Gauck von 1990 an der für die Erschließung der Akten zuständigen Behörde Name, Gesicht und Profil gegeben.

Sein aufrechter Gang – wie gesagt: durch keine Kompromisszwänge in der pragmatischen Partei- und Parlamentspolitik gebeugt und geprüft – hat ihn jetzt zu einer moralischen Autorität werden lassen. Dass ihn bis auf eine, die Linkspartei, alle Parteien als ihren Kandidaten für das höchste Amt im Staate erkoren haben, ist eine der famosen Paradoxien im politischen Geschäft.

Denn solche „Konsenskandidaturen“ entstehen in der Regel nur aus der breiten und tiefen Zustimmung zur Person. Mit Joa­chim Gauck hingegen dürfte jede Partei ihre Schwierigkeit gehabt haben und vielleicht noch bekommen. Keiner kann ihn vereinnahmen, keinem hat er nach dem Munde geredet. Auf einmal wollten alle Parteipolitiker jemanden, der ganz anders ist als sie, zum Staatsoberhaupt machen. Diese Einsicht ist vielleicht aus der Erkenntnis geboren, dass sie aus ihren eigenen Reihen niemand Gleichrangigen aufzubieten hatten. Diese Wahl kann aber auch nur gut ausgehen, weil Joachim Gauck – bei aller Einsicht in menschliche und strukturelle Schwächen des „Zoon politikon“ – nie der Versuchung zu einem antiparlamentarischen und parteienfeindlichen Populismus nachgeben wird. Wer erst im fünfzigsten Jahr seines Lebens in der freiheitlichen Demokratie ankommen durfte und seither, wie er auch nach seiner Wahl bekannte, nie mehr eine Wahl versäumt hat – der weiß sehr genau, dass eine Demokratie nicht nur die Freiheit braucht, sondern die Freiheit auch sorgfältig gepflegte demokratische ­Institutionen.

In jüngster Zeit ist die Instanz des Bundespräsidenten durch die beiden Rücktritte erst von Horst Köhler, dann von Christian Wulff für manche Beobachter in Zweifel gezogen worden. Aber vielleicht war diese „Krise des Staatsoberhauptes“ auch ein untergründiger Ausdruck der Krise unseres gegenwärtigen politischen Zustandes überhaupt.

Joachim Gauck mit seiner geradezu trotzigen Zuversicht in die Freiheit und die demokratische Verantwortung ist die große Chance, den Deutschen beides zu vermitteln – das Selbstvertrauen in ihre freiheitliche Demokratie und zugleich das Bewusstsein, dass jeder Bürger an seinem Platz dafür selber etwas tun muss. Der französische Schriftsteller Ernest Renan hat einmal gesagt, der Zusammenhalt einer Nation sei ein „plébiscite de tous les jours“ – eine tagtägliche Volksabstimmung. In diesem Sinne hat Joachim Gauck das Zeug und das Mandat zu einem wahrhaft plebiszitären Bundespräsidenten.

Robert Leicht, politischer Korrespondent und früherer Chefredakteur der „Zeit“, ist einer der bekann­testen deutschen Journalisten.