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Zu sechst ans Ziel

Der Historiker Professor Gregor Schöllgen über den Zwei-plus-Vier-Prozess und den Weg vom Mauerfall 1989 zur deutsche Einheit 1990.

14.08.2012
© picture-alliance/dpa

Die deutsche Teilung ist die Quittung für den Eroberungs-, Beute- und Vernichtungsfeldzug der Jahre 1939 bis 1945 – und sie ist eine Konsequenz aus der Uneinigkeit der alliierten Sieger in der deutschen Frage. Ursprünglich als Demarkation zwischen einer sowjetischen sowie einer amerikanischen, einer britischen sowie einer französischen Besatzungszone geplant, verfestigt sich die Linie Lübeck-Helmstedt-Eisenach-Hof im Laufe der Jahre zu einer Grenze zwischen zwei deutschen Staaten. Seit dem Sommer 1961 wird sie von den Machthabern des ostdeutschen Unrechtsregimes durch Mauer, Stacheldraht und Minenfelder zu einer praktisch nicht mehr überwindbaren Barriere ausgebaut.

Sie trennt nicht nur die im Mai 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland von der wenige Monate später ins Leben gerufenen DDR. Wer die Mauer durchlässig machen oder gar überwinden will, muss die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges anerkennen – und braucht die Zustimmung der alliierten Sieger. Den ersten Schritt tut die Bundesregierung zwischen 1970 und 1972: In Verträgen mit der Sowjetunion, Polen und der DDR bestätigt Bonn unter anderem die Tatsache der deutschen Teilung und akzeptiert die Grenze entlang Oder und Neiße als die Westgrenze Polens.

Radikaler Umbau der Sowjet­union

Der zweite Schritt setzt eine Änderung der Haltung der Sowjetunion zur deutschen Frage voraus. Die gilt als ausgeschlossen, bis ein neuer Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Michail Gorbatschow, 1985 mit einem gleichermaßen radikalen wie transparenten Umbau des schwächelnden Imperiums beginnt. Was als innere Erneuerung geplant ist, entwickelt alsbald eine revolutionäre, durch den Kreml nicht mehr steuerbare Eigendynamik. Die Reform führt zur Sezession, und diese erfasst über kurz oder lang alle Völker der Sowjet­union und ihres Machtbereichs in Europa, auch die Bevölkerung der DDR.

Weil sich aber die Staats- und Parteiführung in Ost-Berlin der Reform verweigert, suchen die Menschen ihr Heil in der Flucht. Ihr Weg führt sie in die benachbarte Tschechoslowakei und von dort über Ungarn nach Österreich. Während die ungarischen Reformer ihre Unterstützung signalisieren und am 10. September 1989 die Öffnung der Grenze zu Österreich bekannt geben, geht die Führung der Tschechoslowakei den umgekehrten Weg und schließt ihre Grenze zu Ungarn.

So wird Bonns Botschaft in Prag zum Zufluchtsort der Ausreisewilligen. Ende September halten sich rund 5000 auf dem Gelände auf. Ähnliches bahnt sich in Warschau an. Ein unhaltbarer Zustand. Nachdem Hans-Dietrich Genscher am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York eine Lösung gefunden hat, kann er am Abend des 30. September den im Park der Prager Botschaft Versammelten ihre Ausreise in die Bundesrepublik ankündigen. Die Fahrt erfolgt, einer Bedingung der DDR entsprechend, mit Sonderzügen über deren Territorium. Eine törichte Forderung, denn die Flüchtlingszüge aus Prag und Warschau erhöhen den Druck auf das Regime. Selbst der Sturz Erich Honeckers, des Generalsekretärs der SED, kann daran nichts mehr ändern.

Zeitgeschichte vor laufenden Mikrofonen

Hunderttausende gehen jetzt auf die Straßen und fordern nicht zuletzt unbeschränk­te Reisemöglichkeiten. Dazu will sich der Informationssekretär der SED am Abend des 9. November auf einer Pressekonferenz äußern. Befragt, wann denn das neue Reisegesetz in Kraft trete, antwortet Günter Schabowski gegen 19 Uhr – vor laufenden Kameras und mit der Situation offenkundig überfordert – „sofort, unverzüglich“. Damit löst er eine Massenwanderung der Bevölkerung in Richtung Mauer und diese wiederum den Anfang vom Ende der DDR aus. Gegen 22.30 Uhr geben die Grenzsoldaten dem Druck nach und heben am Übergang Bornholmer Straße den ersten Schlagbaum.

Kaum dass die Mauer offen ist, lassen die Bürger der DDR keinen Zweifel, wohin die Reise gehen soll. Die Politik muss reagieren. Am 28. November 1989 gibt der Bundeskanzler vor dem Bundestag eine Erklärung ab, die als „Zehn-Punkte-Programm“ Karriere gemacht hat. Die Geschichte vor Augen, hält Helmut Kohl die „deutsche Einheit“ nicht für ein kurzfristig realisierbares Ziel. Machbar erscheinen ihm „konföderative Strukturen“.

Der Weg zur Einheit

Nicht einmal acht Wochen später hat sich der Druck auf die politischen Akteure im Inland wie im Ausland derart erhöht, dass die Einheit nurmehr eine Frage der Zeit zu sein scheint. Dem tragen die Außenminister der beiden deutschen Staaten und der vier alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs Rechnung, als sie in Ottawa zusammenkommen. Anlass ihres Treffens sind Gespräche von NATO und Warschauer Pakt über die Frage der Luftinspektionen. Am 13. Februar 1990 erklären die Sechs, alsbald „die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit“ besprechen zu wollen. Seit Mitte März werden diese Gespräche durch die Politischen Direktoren der Außenministerien vorbereitet, und am 5. Mai treffen sich die sechs Außenminister im Weltsaal des Auswärtigen Amtes in Bonn zu ihrer ersten Verhandlungsrunde. Mit von der Partie sind neben dem Gastgeber Hans-Dietrich Genscher und dem Außenminister der ersten, aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierung der DDR, Markus Meckel: James Baker für die USA, Eduard Schewardnadse für die Sowjetunion, Douglas Hurd für Großbritannien und Roland Dumas für Frankreich.

Die Runde reflektiert die deutschen Vorstellungen. Das gilt nicht zuletzt für die Sprachregelung „Zwei plus Vier“ – und nicht umgekehrt. Auch der kleine Kreis ist im deutschen Interesse. So wird deutlich, dass es nicht um die Verhandlung eines Friedensvertrages geht. Daran hätten im Zweifelsfall alle jene rund 40 Staaten beteiligt werden müssen, die sich zum Zeitpunkt der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Kriegszustand mit diesem befanden. Dem ersten folgen drei weitere Treffen am 22. Juni in Berlin-Niederschönhausen, also im Ostteil der Stadt, am 17. Juli in Paris und am 12. September 1990 schließlich in Moskau.

Nicht immer geht es harmonisch zu, und nicht immer sind die Sechs unter sich. So legt der sowjetische Außenminister in Berlin unerwartet einen Vertragsentwurf vor. Danach hätte Deutschland erst Jahre nach Herstellung der inneren Einheit seine volle äußere Souveränität erhalten – eine Idee, die auch der Bonner Außenminister rundweg ablehnt. An dem guten Verhältnis der beiden ändert das im Übrigen nichts.

Der Zwei-plus-Vier-Prozess

Das Pariser Treffen wiederum ist das einzige, an dem zeitweilig ein siebter teilnimmt. Es ist der polnische Außenminister Krzysz­tof Skubiszewski. Mit gutem Grund, denn die Geschichte Polens seit dem 18. Jahr­hundert ist die Geschichte seiner Be­setz­ung, Teilung und Verschiebung durch fremde Mächte. Fast immer daran beteiligt waren Preußen beziehungsweise das Deutsche Reich. Schon am 21. Juni 1990 haben der Bundestag und die Volkskammer der DDR in gleichlautenden Erklärungen die „Unverletzlichkeit“ der deutsch-polnischen „Grenze jetzt und in der Zukunft“ bekräftigt. Mit der Zusage der Bundesregierung, das vereinigte Deutschland werde die Grenze entlang von Oder und Neiße auch in einem Vertrag mit Polen völ­kerrechtlich bekräftigen, ist der Weg für die polnische Akzeptanz der Vereinigung frei.

Der Zwei-plus-Vier-Prozess im engeren Sinne ist von Anfang an Teil eines umfassenderen Verhandlungsmarathons. Dabei geht es vor allem um die Frage der Zugehörigkeit des vereinigten Deutschland zu jenen internationalen Organisationen, denen schon die Bundesrepublik angehört hatte. Im Falle der Vereinten Nationen, deren Mitglied beide deutschen Staaten seit dem September 1973 sind, ist das unproblematisch.

Schwieriger gestaltet sich die Eingliederung der DDR als Teil eines wiederverei­nigten Deutschland in die Europäische Gemeinschaft. Es ist Jacques Delors, der Präsident der EG-Kommission, der diese schließlich ohne eine Änderung ihrer Verträge vorbereitet. Im Übrigen trägt die Vereinigung Deutschlands zu einer beschleunigten Realisierung der im Juni 1989 beschlossenen europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und mit ihr zur Aufgabe der nationalen Währungen, darunter der D-Mark, bei: Die Wiederherstellung der deutschen Einheit und die Fortschreibung der europäischen Einigung sind zwei Seiten einer Medaille.

Der Weg ist frei

Als größte Hürde erweist sich die Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschland in der NATO, auf die sich Kanzler Kohl und der amerikanische Präsident Bush Ende Februar 1990 in Camp David verständigen. Zwar hat Gorbatschow schon am 10. Februar 1990 dem Bundeskanzler und dem Außenminister seine grundsätzliche Zustimmung zur Einheit signalisiert. Aber eine NATO-Mitgliedschaft erklärt er noch im März für „absolut ausgeschlossen“. Am 15. und 16. Juli reisen Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher erneut nach Moskau und von dort in die kaukasische Heimat Gorbatschows. Dass sie seine Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft mit nach Hause nehmen können, liegt vor allem an der Bereitschaft Bonns, die schwer erschütterte Sowjetunion wirtschaftlich und finanziell zu unterstützen. Damit ist der Weg endgültig frei. Am 12. September 1990 unterzeichnen die sechs Außenminister in Moskau den „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ und lassen so die Regelung der äußeren derjenigen der inneren Einheit folgen: Am 18. Mai ist zwischen den beiden deutschen Staaten ein erster Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, am 31. August der zweite über die Herstellung der Einheit Deutschlands unterzeichnet worden.

Abzug der sowjetischen Truppen

Der sogenannte Zwei-plus-Vier-Vertrag ist kein Friedensvertrag, übernimmt aber dessen Funktion. Er umfasst „die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins“. Mit dem Vertrag „beenden“ die vier Mächte „ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland“ – vorausgesetzt der Vertrag wird von allen Unterzeichnerstaaten ratifiziert, auch von der Sowjetunion. Das aber ist keineswegs gesichert, denn das riesige Gebilde befindet sich im Stadium innerer Auflösung. Am 12. Juni 1990 hat sich auch Russland für souverän erklärt und damit das Ende der Sowjetunion eingeläutet. Dabei muss der Oberste Sowjet nicht nur den Zwei-plus-Vier-Vertrag, sondern auch die deutsch-sowjetischen Verträge über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit und über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland ratifizieren. Als das am 4. März, im Falle des Truppenvertrages sogar erst am 2. April geschieht, ist die Erleichterung groß. Am 15. März 1991 wird die sowjetische Ratifikationsurkunde zum Zwei-plus-Vier-Vertrag in Bonn hinterlegt und damit die äußere Einheit Deutschlands völkerrechtlich endgültig abgeschlossen.

Erstmals seit 1945 gibt es wieder einen nach innen wie außen vollständig souveränen deutschen Staat und mit ihm eine bislang nicht gekannte Verantwortung. Zu dieser hatte sich Außenminister Genscher bekannt, als er eine Woche vor der offiziellen Vereinigungsfeier des 3. Oktober in einer Rede vor den Vereinten Nationen das Versprechen ablegte: „Auch das vereinte Deutschland wird seinen Beitrag leisten zu Frieden und Freiheit, in Europa und in der Welt.“

Gregor Schöllgen ist Historiker und Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität ­Erlangen-Nürnberg.