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„Wir dürfen nicht mit Gelassenheit zusehen“

Politikwissenschaftler Herfried Münkler im Interview über das Verhältnis der Deutschen zur NS-Geschichte – und die heute relevanten Lehren daraus. 

Wolf ZinnInterview: Wolf Zinn , 29.04.2025
Politikwissenschaftler Herfried Münkler
Politikwissenschaftler Herfried Münkler © picture alliance / photothek

Herr Professor Münkler, wie würden Sie einem jungen Menschen in wenigen Sätzen den Grund für den Beginn des Zweiten Weltkriegs erklären?
Es gab in Deutschland starke gesellschaftliche Gruppen, die die Grenzverschiebungen nach dem Ersten Weltkrieg rückgängig machen wollten, denen es somit um die Revision des Versailler Vertrags von 1919 ging. Diese gingen am 30. Januar 1933 mit der NSDAP eine politische Koalition ein, wobei die Nazis sich nicht auf die Wiederherstellung des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1914 beschränkten, sondern im Osten große Eroberungen anstrebten, um dort deutsche Bauern mit dem Ziel einer „Arisierung“ des Raumes anzusiedeln. Dazu sollten die dort lebenden Juden zunächst vertrieben, später aber vernichtet werden. Und schließlich ging es um den Zugriff auf Rohstoffe, die ebenfalls unter deutsche Kontrolle gebracht werden sollten. Aus deutscher Sicht handelte es sich also um eine Gemengelage aus Revisionskrieg und groß angelegtem Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Diese Gemengelage ist wichtig, um die unterschiedliche Thematisierung des Krieges nach 1945 zu verstehen. 

Inwiefern war das Ende des Zweiten Weltkriegs für Deutschland zugleich eine Befreiung und eine Niederlage?
Die Wahrnehmung als „Befreiung“ bezieht sich auf das Ende des NS-Regimes, das seit der Wende des Krieges 1942/43 nicht nur politisch Linke, Juden, Sinti, Roma und Behinderte ermordete, sondern alle verfolgte, die sich ihm entgegenstellten. Die Wahrnehmung als „Niederlage“ dagegen hatte vor allem den Krieg und die Zahl der getöteten Deutschen im Blick, die zwischen Frühsommer 1944 und dem 8. Mai 1945 so hoch war wie in allen Kriegsjahren zuvor zusammengenommen. Mit Blick auf die Teilung Deutschlands und die „verlorenen Ostgebiete“ dominierte in der Bundesrepublik lange die Vorstellung der Niederlage über die der Befreiung. In der sowjetischen Besatzungszone und der DDR dagegen wurde die Kapitulation schon früh offiziell als Befreiung der Deutschen, die keine überzeugten Nazis waren, durch die Rote Armee dargestellt. Im Westen wurde die Vorstellung von der Befreiung nicht politisch verordnet, sondern entwickelte sich allmählich seit den späten 1950er Jahren auf der politischen Linken und verbreitete sich mit wachsendem Wohlstand.  

In der Bundesrepublik dominierte lange die Vorstellung der Niederlage über die der Befreiung.
Herfried Münkler, Politologe und Historiker

Welche Rolle spielten Historiker und Intellektuelle in den Jahrzehnten nach 1945 bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit?
Einige haben den Krieg als „Verteidigungskampf“ gegen die „rote Flut“ aus dem Osten dargestellt und dabei das Leiden der deutschen Bevölkerung herausgestellt. Das waren in der Regel Autoren der politischen Rechten. Die Verbrechen der Wehrmacht und der SS im Osten waren zwar bekannt, wurden aber lange marginalisiert. Einige Historiker und Intellektuelle stellten dagegen die deutsche Eroberungs- und Unterdrückungspolitik in Europa heraus und thematisierten den Zusammenhang von Judenvernichtung und Krieg. Diese entgegengesetzte Sicht war in der Bundesrepublik bis in die frühen 1980er Jahre eine Trennlinie, an der zwischen „rechts“ und „links“ unterschieden wurde. Die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht war insofern ein Wendepunkt, weil seitdem nicht mehr grundsätzlich zwischen der angeblich „sauberen“ Wehrmacht und einer verbrecherischen SS unterschieden werden kann. 

Manche halten das Gedenken an die Opfer des NS-Regimes und den Holocaust in Deutschland für ritualisiert und damit entpolitisiert. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ritualisierungen, die eine Folge alljährlich sich wiederholenden Gedenkens sind, können leicht zu Abstumpfung führen. Ich würde das nicht als Entpolitisierung bezeichnen, sondern als Vergleichgültigung durch rituelle Wiederholung. Man muss darüber nachdenken, wie man dem entgegenwirken kann. Das ist eine große Herausforderung für jede Gedenkkultur

Immer wieder war ich mit dem Schönreden und Verschweigen brutaler Gewalt und Verbrechen konfrontiert.
Herfried Münkler, Politologe und Historiker

Wie kann man die historische Verantwortung Deutschlands für den Zweiten Weltkrieg vermitteln, wenn die letzten Zeitzeugen sterben und die zeitliche Distanz wächst?
Der zeitliche Abstand ist ambivalent: Auf der einen Seite nimmt er dem Erinnerten an Eindringlich- und Eindrücklichkeit; auf der anderen Seite ermöglicht er aber auch einen offenen und unverstellten Blick auf das Geschehene, denn es sterben ja nicht nur die Opfer unter den Zeitzeugen, sondern auch die Täter. Als ich in den 1980er Jahren für mein Buch „Machtzerfall“ die Ereignisse von Januar bis zum Sommer 1945 in meiner hessischen Heimatstadt Friedberg recherchierte, war ich immer wieder mit dem Schönreden und Verschweigen von brutaler Gewalt und Verbrechen konfrontiert. Auch die Profiteure der „Arisierung“ von jüdischem Eigentum sind 80 Jahre nach Kriegsende nicht mehr am Leben. 

Welche Parallelen sehen Sie zwischen der Instabilität der Zwischenkriegszeit und heutigen Bedrohungen für die Demokratie?
Mitunter erscheint die Zwischenkriegszeit, vor allem die späten 1920er und frühen 1930er Jahre, wie eine Blaupause gegenwärtiger Entwicklungen, von der Polarisierung der Gesellschaft im Inneren bis zum Beschönigen oder gar Heroisieren der Vergangenheit. Aber es gibt doch eine zentrale Differenz: Wir wissen heute – oder können es zumindest wissen –, wohin die faschistische Koalition aus Rechtskonservativen und Nazis geführt hat. Und weil wir es wissen, dürfen wir nicht mit jener Ruhe und Gelassenheit zusehen, wie das damals die bürgerliche Mitte getan hat – wenn sie denn nicht von vornherein mitgemacht hat auf einem Weg, der als einer des Wiederaufstiegs gefeiert wurde und der dann ein Weg in Verbrechen und die politische Katastrophe Deutschlands war. Man muss die Abfolge von nationalistischer Begeisterung und den jämmerlichen Behauptungen, mit alledem nichts zu tun gehabt zu haben, herausarbeiten, um den Jüngeren eindrücklich vor Augen zu führen, was sich damals abgespielt hat. Man muss das Ende der Nazizeit detailliert zeigen, um dem Gestus heroischer Männlichkeit, wie ihn die Rechtsnationalisten jetzt kultivieren, die Attraktivität zu entziehen. 

Zur Person: Herfried Münkler

Prof. Dr. Herfried Münkler, geboren 1951 in Friedberg, lehrte bis zu seiner Emeritierung im Oktober 2018 Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Münkler veröffentlichte zahlreiche politik- und geschichtswissenschaftliche Bücher, zuletzt „Macht im Umbruch: Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“.