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„Der Feminismus lebt“

Wie es um die Gleichberechtigung in Deutschland steht und warum der neue Feminismus keineswegs männerfeindlich ist.

11.10.2018
Engagement für Gleichberechtigung im Alltag
Engagement für Gleichberechtigung im Alltag © Adam Berry/Freier Fotograf/Getty Images

Bei jüngeren Menschen herrscht ein Bedürfnis nach echter Gleichberechtigung im Alltag. Wie das die Sicht auf den Feminismus ändert, erklärt die Soziologin Marianne Schmidbaur. Sie ist wissenschaftliche Geschäftsführerin des Centrums für Geschlechterstudien an der Frankfurter Goethe-Universität.

Soziologin Dr. Marianne Schmidbaur
Soziologin Dr. Marianne Schmidbaur © privat

Frau Schmidbaur, wie steht es um die politische Gleichberechtigung in Deutschland? Es gibt zwar eine Bundeskanzlerin, aber auch wieder weniger Frauen im Bundestag.
Tatsächlich haben wir mit etwas über 30 Prozent weiblichen Abgeordneten jetzt weniger Frauen im Bundestag als in der letzten Legislaturperiode, als es noch gut 36 Prozent waren. Vor einigen Jahren hatten wir auch noch drei Ministerpräsidentinnen, jetzt sind es zwei. Man kann nicht darauf vertrauen, dass es stetig vorangeht.

Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich?
Die Internationale Parlamentarische Union listet den Frauenanteil in den Parlamenten weltweit auf: Deutschland liegt mit Platz 46 von 190 im Mittelfeld. Auf Platz eins steht Ruanda. Das ist natürlich nur ein Indikator unter vielen, aber meines Erachtens belegen wir auch insgesamt nur einen mittleren Platz.

Was müsste geschehen, damit Deutschland nach vorne aufrückt?
Die Parteien sind so etwas wie Gatekeeper für die Vertretung in den Parlamenten. Deshalb bräuchten wir eine Quote für die Kandidatenlisten. Offensichtlich geht es ohne nicht. In Frankreich müssen Wahllisten paritätisch zusammengesetzt werden. Ist das nicht so, wird die Liste entweder nicht angenommen oder die Partei muss fürchten, ihren Zuschuss gekürzt zu bekommen. Diesem Beispiel sollten wir folgen.

Nicht nur in Deutschland werden wieder Parteien stärker, die traditionelle Rollenbilder vertreten. Diesen Anfängen gilt es zu wehren.
Soziologin Dr. Marianne Schmidbaur

Ist das Wort Feminismus in Deutschland negativ besetzt?
Eine Zeitlang wurde Feminismus gleichgesetzt mit Männerfeindlichkeit. Deshalb galt er als überholt. Das ist inzwischen wieder anders. Heute machen junge Menschen die Erfahrung, dass sich ihre Lebensmodelle nicht verwirklichen lassen, dass sie Familien- und Erwerbsarbeit nicht gleichberechtigt zwischen den Geschlechtern aufteilen können. Genau das wünscht sich aber die Mehrheit. Dadurch hat Feminismus wieder einen anderen Klang erhalten.

Also eine pragmatische Sicht auf den Feminismus?
In gewisser Weise ja, es geht um Gleichberechtigung im Alltag. Auch Männer wollen heute nicht mehr auf Erwerbsarbeit reduziert werden.

Steht der neue Feminismus noch in der Tradition der frühen Frauenbewegung?
In der Forschung spricht man von drei Wellen des Feminismus: Die erste hat für das Frauenwahlrecht gekämpft, war in Vereinen und Gruppen organisiert. Die zweite der 1960er- und 1970er-Jahre stritt für neue Freiheiten und gleichberechtigte Gesetze; sie war hauptsächlich in außerparlamentarischen Gruppen unterwegs. Heute geht es um die Lebensbedingungen, auch um den Kampf gegen sexuelle Gewalt. Die Kampagnen spielen sich überwiegend im Netz ab und sind internationaler als früher.

Das heißt, der Feminismus lebt – auch in Deutschland?
Auf jeden Fall. Allerdings müssen wir wach und aktiv bleiben. Sonst drohen Rückschläge. Nicht nur in Deutschland werden wieder Parteien stärker, die sehr traditionelle Rollenbilder vertreten. Diesen Anfängen gilt es zu wehren.

Interview: Friederike Bauer

© www.deutschland.de