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Hiergeblieben

Ihre zweite Heimat hat die Schriftstellerin María Cecilia Barbetta in Deutschland gefunden. Hier schreibt sie, wie das passierte.

María Cecilia Barbetta, 08.11.2019
María Cecilia Barbetta
María Cecilia Barbetta © dpa

„Zu-rück-blei-ben! Zurückbleiben!!!“ Der Kommandoton bringt mein Herz zum Stillstand. Ich erschrecke und rühre mich nicht von der Stelle. Die Türen schließen sich, die U-Bahn, die zur Uni fährt und in die ich gern eingestiegen wäre, setzt sich wieder in Bewegung, einzig und allein ich – wie mir befohlen – bleibe zurück. Inzwischen beläuft sich das Ausharren in Berlin auf 23 Jahre. Im nächsten werde ich die Hälfte meines Lebens hier verbracht haben, obwohl ich damals, im Oktober 1996, für die überschaubare Dauer meiner Promotion angereist war. Was ist der Grund, der mich veranlasste, in Deutschland Wurzeln zu schlagen, anstatt, wie anfänglich geplant, nach der Doktorarbeit zu meiner argentinischen Familie nach Buenos Aires zurückzukehren, deren Ursprünge in Italien und dem Libanon liegen, bloß nicht hier? Es kann unmöglich der immer wieder neu gegebene Befehl des U-Bahn-Personals gewesen sein, der mich zum Umdenken bewog, wenngleich irgendwann auch sie, die Beamten in Berlin, es sich anders überlegten. Wer kennt sie nicht, die freundlichen automatischen Ansagen?

Zu-rück-blei-ben: Die Berliner U-Bahn-Station Friedrichstraße.
Zu-rück-blei-ben: Die Berliner U-Bahn-Station Friedrichstraße. © dpa

Weltstadt mit Herz hieß es in den Prospekten über München. Nach der Eingewöhnungsphase in Berlin war ich überzeugt, der offizielle Slogan, der die Hauptstadt Bayerns adelte, ließe sich auf das ganze Land übertragen. In jenen fernen Tagen hatte Deutschland ein Herz für Tiere, ein Herz für Kinder und eins für mich. Ich fühlte mich willkommen geheißen – von Kolleginnen und Kollegen, die mich über meine Heimat ausfragten, von Passanten, die ich auf der Suche nach einem Frauenbuchladen oder einem Programmkino ansprach. Was ich, südamerikanisch sozialisiert, für eine Distanz oder Barriere im Umgang hielt, erwies sich als Respekt, als Wunsch meines Gegenübers, in sich zu gehen, um ernsthaft über dieses oder jenes nachzudenken. Die ausgeprägte Verantwortung und Solidarität selbstbewusster Frauen, die anders als die Argentinierinnen aus politischer Überzeugung keinen Wert auf Enthaarung oder Schminke legten, flößte mir Bewunderung ein. Ich blieb in Deutschland, denn alles, was mich umgab, war faszinierend und wollte gelernt werden: kritisches Abwägen, Wertschätzung des Anderen und das Gefühl der Freiheit.

Ich habe mich stark verändert, Deutschland auch. Neulich war ich wie paralysiert – doch anders als bei meiner Ankunft. Ich ging im Supermarkt mit meinem Einkaufswagen an dem eines jungen Mannes und seiner Tochter vorbei. Was mir denn einfiele, ihn zu überholen. »Du bist nicht einmal aus Berlin!« Er duzte mich, die ich mir vor einer Ewigkeit das argentinische Duzen abtrainiert hatte. Wenn wir mittlerweile auf größter und kleinster Ebene die Zugehörigkeit von Menschen verhandeln, bin ich dafür, die Grenzen dort zu setzen, wo sie hingehören. Ich habe den jungen Vater gesiezt, damit Berlin und München, Dresden und Hamburg, Leipzig und Bonn die Weltstädte bleiben, in denen Zugewanderte leben und arbeiten dürfen, die wie du und ich ein Herz für Deutschland haben.

María Cecilia Barbetta wurde 1972 in Buenos Aires geboren, wuchs in dem Einwandererviertel Ballester auf, in dem ihr Roman »Nachtleuchten« spielt, und besuchte dort eine deutsch-argentinische Schule. 1996 zog sie nach Berlin und blieb. Ihr erster Roman, »Änderungsschneiderei Los Milagros« (2008), wurde unter anderem mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Ihr zweiter Roman über den Vorabend eines politischen Umsturzes, »Nachtleuchten« (2018), wurde mit dem Alfred-Döblin-Preis und dem Chamisso-Preis/Hellerau geehrt. Der Roman erreichte im Oktober 2018 den ersten Platz der Bestenliste des Südwestrundfunks und stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. María Cecilia Barbetta schreibt auf Deutsch. 

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