„Märchen erleichtern uns die Verständigung“
Literaturexperte Tilman Spreckelsen erklärt, weshalb Märchen weltweit funktionieren und warum ihre Figuren jede Kultur erreichen.
Herr Spreckelsen, warum brauchen die Menschen heute noch Märchen?
Es gibt einen ganzen Berg an Literatur zu der Frage, inwieweit Märchen eine therapeutische Wirkung auf uns haben. Bekannt ist etwa die Studie von 1976 „Kinder brauchen Märchen“ des Psychoanalytikers Bruno Bettelheim.
Bettelheim vertrat die These, dass Märchen Kindern helfen könnten, innere Konflikte, Ängste und Entwicklungskrisen zu verstehen und zu bewältigen.
Demgegenüber würde ich aber immer die literarische Qualität von Märchen hervorheben. Sie sind eine Gattung aus eigenem Recht und als Kunstform zeitlos.
Was macht Grimms Märchen so präsent, dass sie oft neu verfilmt und weitererzählt werden?
Die Grimm’schen Märchen haben frühzeitig eine solche Prominenz erreicht, dass sie viele andere Sammlungen überdecken. Zugleich ging von Jacob und Wilhelm Grimm ein Impuls aus, der weltweit aufgegriffen wurde – überall wurden nun Märchen gesammelt, ob bei den Maori, in Japan oder Chile. Die Märchen der Brüder Grimm sind für viele Menschen allgegenwärtig geworden. Es genügt, „Froschkönig“ zu sagen, und schon ist einem die Handlung des Märchens präsent, selbst wenn man es nicht gelesen hat. Und Jacob und Wilhelm Grimm sind selbst zu literarischen Gestalten geworden, etwa als Vorbilder der „Reckless-Reihe“ von Cornelia Funke oder im Hollywood-Film „Brothers Grimm“ mit Heath Ledger und Matt Damon.
Wie weit tragen Märchenfiguren über kulturelle Grenzen hinweg?
Man mag eine Rotkäppchen-Variante in Japan entdecken oder eine südamerikanische Version des Märchens „Vom Fischer und seiner Frau“. Hier ist aber Vorsicht geboten: Oft bleibt der Ursprung eines Märchens im Unklaren, und häufig hat es erst mit seiner Verschriftlichung internationale Wirkung entfaltet. In jedem Fall aber haben Märchen eine universelle Wirkung und erleichtern uns die Verständigung über kulturelle Grenzen hinweg.