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Das Recht auf eine Chance

Das Grundgesetz kennenlernen, sich politisch engagieren: Das Projekt „Verfassungsschüler“ hilft Jugendlichen dabei.

Stephan Hermsen, 11.12.2019
70 Jahre Grundgesetz – Feier am Brandenburger Tor im Mai 2019
70 Jahre Grundgesetz – Feier am Brandenburger Tor im Mai 2019 © dpa

Man muss ein bisschen suchen, bis man den Treff Hannibal findet, hier im Innenhof eines Wohnkomplexes, der in den frühen 1970er Jahren aus Betonfertigteilen zusammengesteckt wurde. Die Räume befinden sich im Erdgeschoss und sind arm an Fenstern, aber reich an hellem Kunstlicht. Frisches Laminat liegt auf dem Boden, Teile einer Küche warten darauf, eingebaut zu werden. Serkan Sanivar, Sozialarbeiter des offenen Jugendtreffs der Stadt Dortmund, erklärt: „Wir haben ein paar Zuschüsse bekommen, jetzt wird renoviert.“

Dass die notorisch finanzschwache Stadt Dortmund hier investiert – es könnte auch mit den Jugendlichen zu tun haben, die an diesem späten Nachmittag in den Treff kommen. Sie, das sind die „Verfassungsschüler“ – ein Projekt, das Anfang 2018 begann und junge Leute wie Roshad Mirek, Mervan Dogan, Mounier el-Assa, Ibrahim Jabar, Medis Muska, Mehmet Akkusch und Oualid Az-Zouri dazu gebracht hat, sich mit dem Grundgesetz zu befassen.

Auf Augenhöhe mit Politikern

Denn das ist der Kern des Projekts „Verfassungsschüler“: Jugendliche, die sonst möglicherweise für die Demokratie und das politische System der Bundesrepublik verloren wären, für diesen Staat zu interessieren, sie möglichst sogar zur Teilnahme zu bewegen. „Die Jugendlichen haben in diesem Projekt nicht nur das Grundgesetz kennengelernt, sondern auch die Medienlandschaft in Deutschland“, so Sanivar, der das Projekt gemeinsam mit seinem Kollegen Suat Yilmaz in Dortmund gestartet hat. Ein ähnliches Projekt gab es in Berlin-Spandau. „Außerdem haben die Teilnehmer gelernt, über Werte zu diskutieren und über das Wesen der Demokratie.“ Und sie haben selbst Veranstaltungen organisiert – vom Treffen mit einer Landtagsabgeordneten der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) bis zum Dialog mit dem Bezirksbürgermeister.

Die Dortmunder „Verfassungsschüler“ im Gespräch mit Serkan Sanivar
Die Dortmunder „Verfassungsschüler“ im Gespräch mit Serkan Sanivar © privat

„Das Spannendste für mich war, dass es zu jedem Recht ein Gegenrecht gibt“, erzählt Mervan Dogan. Klar, die Würde des Menschen ist unantastbar, das haben sie alle oft genug gehört. Und ein Delikt wie Mord verstößt eindeutig dagegen. „Aber es gibt eben auch Notwehr und man muss immer das Recht des einen gegen das Recht des anderen abwägen.“

Wie weit dürfen Rap-Texte gehen?

Besonders engagiert haben sie das beim Thema Rap diskutiert. Wie weit dürfen die Texte gehen? Ibrahim Jabar erzählt von den kontroversen Diskussionen um antisemitische Verse. „Ich finde, dass manche echt zu weit gehen. Aber da steht die künstlerische Freiheit gegen den Schutz vor Antisemitismus.“ Sogar an diesem Abend, viele Monate später, flammt die Diskussion wieder auf – und mündet in die Erkenntnis, dass es immer darauf ankommt, den Einzelfall zu würdigen. Und den Einzelnen.

Und damit sind die jungen Erwachsenen aus der Dortmunder Nordstadt schon fast bei sich selbst und ihrem Anspruch an die deutsche Gesellschaft angekommen. Denn die Nordstadt, das ist ein Stein gewordenes Vorurteil: Wer hierher kommt, hat kaum Chancen. Menschen aus 180 Nationen leben im größten Gründerzeitviertel des Ruhrgebiets, nördlich von Innenstadt und Hauptbahnhof.

Einst stolzes Arbeiterviertel und Gründungsort von Borussia Dortmund, dem sportlichen Imageträger der Stadt, ist die Nordstadt seit Jahrzehnten der Ankunftsort für Neubürger: Arbeitsmigranten, Flüchtlinge. Die Arbeitslosenquote liegt bei mehr als 20 Prozent, viele Bewohner leben von der Sozialhilfe. Und viele erhalten keine Chance auf Arbeit oder Ausbildung, wenn sie sagen, wo sie wohnen – ein Faktor, der dazu beitragen kann, dass Jugendliche für Extremismus politischer oder religiöser Art anfällig werden.

Ey, wir haben es von hier bis in den Bundestag geschafft.
Medis Muska, Teilnehmer des Projekts „Verfassungsschüler“

„In der achten Klasse habe ich lange keinen Praktikumsplatz bekommen“, sagt Roshad Mirek. „Bis ich die Postleitzahl auf den Bewerbungen weggelassen habe.“ Erst als er die Zusage hatte, erzählte er, wo er wohnt. „Wenn wir Abitur machen, haben wir eigentlich schon viel mehr geschafft als die Jugendlichen, die aus anderen Stadtteilen kommen“, stellt Oualid Az-Zouri fest. „Wir sind bei diesem Marathonlauf viel weiter hinten gestartet, aber gleichzeitig ins Ziel gekommen.“ Viele der Jugendlichen haben mindestens das Fachabitur, manche sogar das Abitur. Ein wenig Stolz macht sich in der Runde breit, auch auf die Teilnahme am Verfassungsschüler-Projekt. „Ey, wir haben es von hier bis in den Bundestag geschafft, waren im Innenministerium und haben Angela Merkel getroffen“, sagt Medis Muska.

Viele überlegen jetzt, sich zu engagieren. Oualid Az-Zouri liebäugelt mit dem Eintritt in die FDP. Aber noch gibt es zu wenige politische Vorbilder, zu wenige Politikerinnen und Politiker mit Migrationshintergrund. Klar, es gibt den Bundespolitiker Cem Özdemir von den Grünen, und jetzt hat Hannover einen Oberbürgermeister mit türkischen Wurzeln. Auch Mervan Dogan überlegt, sich politisch einzubringen, hat aber noch keine Partei gefunden, die ihm zusagt. Er war mal bei Amnesty International. „Aber die trafen sich in der Kneipe beim Bier.“ Projektleiter Sanivar sieht da auch eine Bringschuld der Gesellschaft: „Solche Angebote müssen kultursensibler werden. Muslime werden nicht teilnehmen, wenn die Treffen in der Kneipe stattfinden.“ Mervan Dogan differenziert: „Ich habe nichts gegen Bier, aber wenn ich über Menschenrechte rede, will ich nüchtern bleiben.“

Was wir hier gemacht haben, ist aufsuchende Demokratiearbeit.
Sozialarbeiter Serkan Sanivar über das Projekt „Verfassungsschüler“

Serkan Sanivar freut sich über die Wirkung des Verfassungsschüler-Projekts. „Was wir hier gemacht haben, ist aufsuchende Demokratiearbeit.“ Wenn im September 2020 in Dortmund ein neuer Stadtrat und ein neuer Oberbürgermeister gewählt werden – da sind sie sich die Jugendlichen aus dem Treff Hannibal einig – werden sie alle zur Wahl gehen. Weil sie jetzt wissen, dass sie mitreden können. Und dass man ihnen zuhört.

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