„Viele bewahren Bräuche, die heute selten geworden sind“
Sie leben in Siebenbürgen, Oberschlesien oder Kasachstan. Kulturwissenschaftlerin Karoline Gil vom Institut für Auslandsbeziehungen erklärt, was diese Gruppen bis heute prägt.
Frau Gil, weltweit gibt es viele Menschen mit deutschen Wurzeln. Wenn Sie von deutschen Minderheiten im östlichen Europa und Zentralasien sprechen: Wen meinen Sie damit?
Wir sprechen von historisch gewachsenen deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa sowie in Zentralasien. Ihre Vorfahren lebten oft seit Jahrhunderten in diesen Regionen, wurden als Fachkräfte angesiedelt oder durch Grenzverschiebungen nach den zwei Weltkriegen zu Minderheiten. Diese Gruppen bewahren bis heute die deutsche Sprache, Traditionen und die gemeinsame Geschichte. Trotz Repressionen oder Diskriminierung, besonders unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und bis zum Ende der Sowjetunion hielten viele ihre Sprache und kulturellen Traditionen zumeist im Privaten lebendig. Wir gehen heute von rund 1 bis 1,5 Millionen Menschen im östlichen Europa bis nach Zentralasien aus.
Wie unterscheiden sich die deutschen Minderheiten von Deutschstämmigen, etwa in den USA, in Brasilien oder Argentinien?
Der Unterschied liegt in der historischen und politischen Verankerung. Deutsche Minderheiten in Europa und Zentralasien leben seit Generationen in festen Siedlungsgebieten und sind dort meist offiziell anerkannt. Sie verfügen über eigene Organisationen, Medien, Schulen und eine sichtbare kulturelle Identität im öffentlichen Raum. Sie waren besonders von den Folgen des Zweiten Weltkrieges betroffen. Das Kriegsfolgenschicksal trennte diejenigen, die nach 1945 durch den sogenannten Eisernen Vorhang abgeschnitten waren. Sie konnten ihre Sprache und Kultur oft nicht öffentlich pflegen und wurden vielerorts diskriminiert, außer zum Beispiel in Siebenbürgen in Rumänien.
Erst in Folge des Umbruches 1989 konnten die deutschen Minderheiten ihre Strukturen wieder öffentlich sichtbar machen und weiterentwickeln. Um das positive Miteinander zwischen Minderheiten und Mehrheit zu gestalten, werden sie mit Programmen und Fördermitteln der Bundesrepublik Deutschland unterstützt.
Welche Gruppen fallen Ihnen aufgrund ihrer Bräuche und Traditionen sofort ein?
Die Siebenbürger Sachsen sind ein gutes Beispiel. Es gibt ein sehr hohes Bildungsideal und die Minderheit ist sehr professionell organisiert und setzt sich für Demokratie ein. Obwohl sie nur ungefähr ein Prozent der Rumänen ausmacht, ist sie sehr anerkannt und hat eine aktive politische Teilhabe. Die Kirchenburgen zeugen zudem von der langen Geschichte der deutschen Minderheit und prägen die Landschaft Siebenbürgens, dieser Region in der Mitte Rumäniens. Die Kasachstandeutschen bilden eine der größten Gruppen unter den deutschen Minderheiten. Sie haben oft Familiengeschichten mit schweren Schicksalen wie mehrfachen Deportationen.
Was hält diese Gruppen zusammen?
Viele bewahren Bräuche, die in Deutschland heute selten geworden sind. Sie pflegen zum Teil jahrhundertealte Bräuche. Für viele junge Menschen sind diese Traditionen keineswegs altmodisch, sondern Teil ihrer Identität. Gleichzeitig bringen sie sich aktiv mit aktuellen Kulturangeboten ein, die auch der Mehrheitsgesellschaft offenstehen und ein authentisches und modernes Bild von Deutschland und den deutschen Minderheiten vermitteln.
Wie unterstützt Deutschland diese Minderheiten?
Deutschland übernimmt historische Verantwortung und stärkt Sprache, Kultur und zivilgesellschaftliche Strukturen. Das Institut für Auslandsbeziehungen, kurz ifa, setzt dafür auf konkrete Maßnahmen: Seit den 1990er-Jahren entsenden wir junge Fachexpertinnen und Fachexperten aus Deutschland, vergeben Stipendien, fördern Projekte in den Ländern und entwickeln digitale Angebote. Ziel ist, dass die Minderheiten ihre Sprache weitergeben und als Brückenbauer zur Mehrheitsgesellschaft wirken. So sollen auch Nachwuchsarbeit und Medienstrukturen weiterwachsen.
Zur Person: Karoline Gil
Kulturwissenschaftlerin Karoline Gil leitet am ifa – Institut für Auslandsbeziehungen den Bereich für deutsche Minderheiten, der Programme zur Stärkung ihrer kulturellen, sprachlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen umsetzt.