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Ein Blick auf Europa aus Großbritannien

Großbritannien wollte schon immer in der EU, aber auch draußen sein – dabei gehört es doch zu Europa, ist Rachel Sylvester von der Londoner The Times überzeugt.

Rachel Sylvester, 05.03.2020
London: Tower Bridge und Financial District.
London: Tower Bridge und Financial District. © s4svisuals - stock.adobe.com

Wir haben Journalisten aus europäischen Staaten nach der Zukunft Europas gefragt – lest hier die Antwort von Rachel Sylvester. Sie schreibt für die britische The Times.

Großbritannien war in seinen Beziehungen zum Rest Europas schon immer eher der peinliche Nachbar. Wie bei den Fahrgeschäften auf dem Rummel, in denen die Fahrgäste beim Herumwirbeln gegen die Wände gepresst werden, schien es eine Zentrifugalkraft zu geben, die uns von Brüssel wegzog, während der Rest der EU auf eine immer engere Union zusteuerte. Wir wollten sowohl drinnen wie auch draußen sein, den Binnenmarkt haben, aber den Euro ablehnen, unser Stück vom Kuchen bekommen und es auch essen. Der Kanal war eine politische und physische Barriere, die ein Gefühl der Isolation und einen törichten Stolz darauf hervorrief. Es war dieser Drang zur Isolation, der zum Brexit-Votum von 2016 führte, aber die Abgeschiedenheit war immer eine Illusion.

Wir sind unsicher über unseren Platz in der Welt

Premierminister Boris Johnson porträtiert sein Land in der neuen Ära nach dem Brexit als eine globale Supermacht, die als großer Verfechter des Freihandels in die Welt hinausgehen wird. Doch dafür kehren wir unserem größten Handelspartner den Rücken, sind Zuschauer eines Tauziehens zwischen den USA und China – und hoffen auf weltweite Abkommen. Die Wahrheit ist, dass wir geschwächt und unsicher über unseren Platz in der Welt sind. Auch heute noch gilt der Satz von US-Außenminister Dean Acheson von 1962, dass Großbritannien ein Imperium verloren, aber noch keine neue Rolle gefunden habe.

Das Votum für den Brexit war von Emotionen getrieben. Die Austrittskampagne spielte mit irrationalen Ängsten vor Einwanderung und der antipolitischen Sehnsucht, „die Kontrolle zurückzugewinnen“. Aber jetzt, wo wir draußen sind, sehen wir der Realität ins Auge, den notwendigen Kompromissen und den harten wirtschaftlichen Kosten, die ein Verzicht auf Handelsabkommen mit sich bringt.

Rachel Sylvester
Rachel Sylvester

Der Premierminister ist entschlossen, die EU hinter sich zu lassen und ein Freihandelsabkommen mit Brüssel abzuschließen, auch wenn Unternehmen, Landwirte und Verbraucher dafür einen Preis zahlen müssen. Sollte das nicht klappen, ist er bereit, ohne Abkommen zu gehen mit allen Konsequenzen.

Selbst nach Einschätzung der Regierung bedeuten diese Konsequenzen für Teile des Landes einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 16 Prozent. Bezeichnenderweise würden die Gebiete der Arbeiterklasse im Norden und in den Midlands am härtesten getroffen – genau jene, die den Konservativen den Sieg bei den Parlamentswahlen beschert haben. Wenn Johnsons Weg zu Fabrikschließungen und Arbeitslosigkeit führt, wird er bei der nächsten Wahl hart bestraft werden.

Die Geographie lässt sich ebenso wenig ignorieren wie die Geschichte

Es wird daher sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Druck ausgeübt werden, sich auf Kompromisse mit der EU zu einigen. Europa ist immer noch der geographisch nächstgelegene Markt für Großbritannien. Die Geographie lässt sich ebenso wenig ignorieren wie die Geschichte. So wie eine emotionale Zentrifugalkraft uns aus der EU gezogen hat, so wird uns eine wirtschaftliche Zentripetalkraft langsam aber sicher zurück nach Europa bringen.

Rachel Sylvester ist politische Kolumnistin bei der Times. Sie begann 1996 über Politik zu schreiben und arbeitete beim Daily Telegraph und The Independent on Sunday. 2008 kam sie zur The Times und war 2015 und 2016 Großbritanniens politische Journalistin des Jahres.

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